Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
seine Jugendzeit im Internat erinnert. »Er schläft«, fuhr Joseph Sutcliffe fort. »Das ist doch zum Aus-der-Haut-Fahren, oder?Es gibt eine Bedrohung für Leib und Leben, aber Jesus schläft seelenruhig. Seine Jünger wecken ihn auf, weil sie hoffen, dass er ihnen hilft. Und tatsächlich, er tut es. Er bedroht den Wind und die Wogen, und der Sturm legt sich. Sie sind gerettet. So weit, so gut. Aber was jetzt kommt, ist das eigentlich Erstaunliche: Jesus tadelt die Jünger, dass sie ihn geweckt haben. Habt ihr keinen Glauben?, fragt er sie. Er hätte genauso gut sagen können: Habt ihr kein Vertrauen in Gott?«
Joseph Sutcliffe hielt kurz inne, von fern war das Geräusch eines herannahenden Hubschraubers zu hören. Die folgenden Worte des Geistlichen gingen allmählich im Dröhnen des Hubschraubers unter, während der Boden unter ihnen leicht zu vibrieren begann. Verunsichert blickten sich die Anwesenden gegenseitig an. »Selbst wenn ich schlafe, bin ich bei euch«, rief der Pfarrer. »Selbst wenn ich schlafe, ist Gott immer bei euch! Habt Vertrauen, dass euer Lebensschiff nicht sinkt! Habt Vertrauen, auch wenn ich schlafe! Ich bin immer da!« Die letzten Worte schrie der Pfarrer ihnen fast entgegen in dem vergeblichen Versuch, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Dann holte Sutcliffe tief Luft und legte eine Pause ein, in der er jeden Einzelnen mit strengem Blick zurück in den Gottesdienst holte, so lange, bis der Hubschrauberlärm abebbte. Danach fuhr er in normaler Lautstärke und fast im Plauderton mit seiner Predigt fort: »Das, liebe Gemeinde, ist die Grundbotschaft. Gott ist immer bei uns. Ob wir ihn sehen und anfassen können oder nicht. Wir mögen uns zuweilen im Meer des Lebens so verloren fühlen wie die Jünger in einem kleinen Boot bei Sturm, aber in Wahrheit sind wir geborgen in Gottes Hand. Der Text, den wir gerade gelesen haben,stammt aus dem Lukasevangelium. Wie alle Evangelien wurde es Jahre nach der Kreuzigung Jesu verfasst. Es ist als Botschaft an die zu verstehen, die sich nicht mehr direkt an Jesus wenden können. Für diese Nachfolgenden, für uns alle ist Jesus der schlafende Jesus in unserem Lebensboot. Dieses Gleichnis ist eine Botschaft an die vielen, die an Jesus glauben, ohne dass sie seine Wunder live und in Farbe, wie man heute so schön sagt, sehen können. Denn selig sind die, die nicht sehen und doch glauben. Amen.«
Joseph Sutcliffe setzte sich wieder neben James, den es nicht gewundert hätte, wenn die Zuhörer applaudiert hätten. Aber es kam nur ein Hüsteln und Räuspern. Der Pfarrer legte die Hände in den Schoß und nickte dem jungen Mann am Keyboard zu, der das Halleluja anstimmte.
James erlebte die weitere Liturgie nur noch als meditativen Hintergrund, während er seinen eigenen Gedanken nachging. Er hielt Jeremys Plan für falsch. Einerseits, weil er nicht viel davon hielt, die Dinge nur an der Oberfläche zu glätten, nicht zuletzt aber auch, weil Jeremy die alte Dame damit entmündigte. James war überzeugt, dass Phyllis weit mehr verkraften konnte, als Jeremy glaubte. Der Anblick der kleinen Gestalt im Rollstuhl täuschte wahrscheinlich viele Menschen über die Tatsache hinweg, dass Phyllis eine zähe und überaus willensstarke Person war. Er dachte an ihren Händedruck bei ihrer ersten Begegnung und musste lächeln. Er war stark und fest gewesen wie der eines Mannes, und als er den Druck deutlich abgeschwächt hatte, umkrallten ihre knochigen Finger seine Hand erst recht wie ein Schraubstock. Dabei hatte sie ihm ein zartes Lächeln geschenkt, wohl wissend, dass er viel zu höflich war, als dass er seine Hand mit Gewalt entwunden hätte. Offensichtlichliebte sie kleine Machtproben und spielte dabei die Alte-Dame-Karte mit Vergnügen aus.
Nach der Messe kam Joseph Sutcliffe auf James zu. »Die Bibelstelle war gut ausgesucht«, bemerkte James. »Predigen Sie jeden Tag über einen Text, der mit Menschen in einem Boot zu tun hat?«
»Man gibt sich Mühe. Morgen geht es um Jonas und den Wal. Aber es wundert mich, dass Sie das mitbekommen haben. Sie wirkten etwas abwesend.«
»Wie kommen Sie darauf? Ich habe Ihnen sehr konzentriert zugehört.«
»Und warum haben Sie so in sich hineingelächelt?«
»Ich habe mich schon auf den Wein gefreut.«
»Aha, und warum sind Sie dann nicht zum Abendmahl nach vorn gekommen?«
»Ach, ich war zu langsam. Als ich sah, dass die Ersten schon vorne standen, habe ich es lieber gelassen. Diese Gemeinschaftstrinkerei aus einem
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