Null-Null-Siebzig - Operation Eaglehurst
»Ich habe Mrs White nur gebeten, Ihnen freundlicherweise Bescheid zu geben, dass ich Sie gern kennenlernen möchte.«
»Nun, wenn es nichts Akutes ist …« Dr. Goat griff nach seiner Tasche und reichte James die Hand. Er war kein Mann zum Plaudern.
»War eigentlich Mr Morat auch bei Ihnen in homöopathischer Behandlung?«, fragte James schnell.
»Sie kannten Mr Morat?«
»William Morat war ein guter Freund von mir. Es würde mich interessieren, ob er auch homöopathisch behandelt wurde.«
»Warum?«
»Nun, wenn es so war, hat die Homöopathie ihm wohl nicht geholfen.«
»Die Homöopathie bewirkt natürlich keine Wunder«, sagte Dr. Goat in einem Tonfall, der verriet, dass er persönlich sehr wohl davon überzeugt war. »Sie kann in vielen Fällen helfen, wo die Schulmedizin nichts ausrichtet, aber natürlich kann siedie Uhr nicht zurückdrehen. Probieren Sie es selbst aus! Die meisten Patienten müssen erst ihre eigene Erfahrung machen, bevor sie überzeugt sind.«
»Wenn sie nicht vorher sterben.«
»Therapieresistenz kommt bei jeder Behandlungsform vor«, erklärte Dr. Goat.
»Therapieresistenz? Das bedeutet, die Behandlung ist an sich gut, nur ist der Patient gewissermaßen immun dagegen, sodass es dann doch nichts nützt?«
Dr. Goat sah James irritiert an. »Wenn Sie nicht wollen, lassen wir es lieber gleich, Mr Gerald. Es war
Ihre
Idee, nicht meine.«
»Doch, doch, ich überzeuge mich gerne selbst«, versicherte James.
Schon am Klopfen erkannte James wenige Minuten später Sheila Humphrey. Niemand konnte so ungeduldig klopfen wie sie, und niemand konnte eine Tür mit so viel Elan aufreißen. Eine Eigenschaft, die er sowohl bewunderte als auch ein wenig anstrengend fand. Sheila war wie ein Sturm, der über einen hinwegfegt: Hinterher war man erfrischt, aber auch irgendwie durcheinandergewirbelt.
»James!«, rief sie, als sie ins Zimmer platzte. »Nicht zu glauben, dieses Wetter an der Küste! Ich bin bis auf die Haut nass geworden auf dem Weg vom Bahnhof hierher!«
Sie schüttelte ihren Regenschirm aus, sodass im Umkreis von zwei Metern dicke Tropfen auf den Teppich regneten. Der kalte Sprühnebel kitzelte James in der Nase und brachte ihn zum Niesen.
»Oh, James, sind Sie erkältet?«, fragte Sheila besorgt, ließ den Schirm auf den Teppich fallen und trat an seinen Sessel. Einen Augenblick befürchtete James, sie würde ihm die Hand an dieStirn legen, um zu sehen, ob er Fieber habe. Doch stattdessen lächelte sie ihn mit liebevoller Strenge an.
»Sehen Sie, wohin das führt, James? Kaum sind Sie in diesem … dieser Anstalt hier, werden Sie auch schon krank.«
»Schön, dass Sie gekommen sind, Sheila«, lächelte James. Er freute sich wirklich, ihr vertrautes Gesicht zu sehen. »Aber ich bin nicht krank, das versichere ich Ihnen.« Er zuckte die Schultern. »Zumindest nicht kränker als vor zwei Tagen.«
»Sie müssen Geduld haben«, sagte Sheila, pellte sich aus ihrer Regenjacke, zog die gelb gepunktete Plastikhaube vom Kopf und versuchte, mit den Fingern einer Hand die plattgedrückten rotbraunen Locken wieder in Form zu bringen.
»In London hat übrigens noch die Sonne geschienen, James. Das ist wieder typisch, auf das Wetter an der Küste ist einfach kein Verlass!«
James bezweifelte stark, dass das Wetter in London schöner war. Aber seit Sheila in den sechziger Jahren aus einem kleinen walisischen Dorf nach London gezogen war, begeisterte sie sich für die Stadt. London war für sie der aufregendste, schönste Ort auf der Welt, und wenn es in London regnete, was nach James’ Empfinden fast ständig der Fall war, dann fiel es Sheila einfach nicht auf. Jeder einzelne Sonnentag aber, den sie im Lauf von über vierzig Jahren in London erlebt hatte, blieb unauslöschlich in ihrem Gedächtnis haften. Fragte man Sheila, hätte sie ohne zu zögern behauptet, dass London genauso viele Sonnentage zu bieten habe wie Rom.
»Was macht der Wintergarten, während Sie hier sind?«, erkundigte er sich. Sheila sah ihn erstaunt an.
»Oh, ich hatte eigentlich nicht vor, länger zu bleiben«, sagte sie. »Für heute Nacht habe ich ein Zimmer im Royal Victoria gebucht, aber gleich morgen fahre ich wieder nach Hampstead zurück.«
»Natürlich«, beeilte sich James, das Missverständnis auszuräumen. »Ich dachte nur, die Pflanzen müssten morgen früh sicherlich auch gegossen werden, nicht wahr?«
Sheila war Besitzerin eines Wintergartens, auf den jeder Gärtner stolz gewesen
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