Null-Null-Siebzig - Operation Eaglehurst
halbvollem Mund redete und beim Trinken außer Lippenstift – schlimm genug – auch noch Speise- und Fettpartikel am Rand des Glases hinterließ. Bezüglich des Lippenstiftes brauchte er sich bei Sheila keine Gedanken zu machen, sie benutzte nie welchen. Sie hatte eine bodenständige Abneigung gegen alles Künstliche. Auch trank sie nie etwas beim Essen, sie hielt es für ungesund, die Magensäfte beim Essen durch zusätzliche Flüssigkeit zu verwässern. Und dafür, mit halbvollem Mund zu reden, war sie schlichtweg zu gut erzogen. Die Sache mit dem Quietschen beim Fleischzerschneiden war ebenfalls nichts, worüber James sich den Kopf zerbrechen musste: Sheila war Vegetarierin. So kam es, dass er sich beim Essen mit ihr so wohl fühlte wie mit niemandem sonst.
Als nur noch Reste der rosafarbenen Soße in seinem Töpfchen übrig waren, bemerkte James, dass es Sheila nicht gut ging. Ihr Gesicht war rotfleckig, Schweiß perlte von ihrer Stirn.
»Ist Ihnen nicht wohl?«
Sheila fächelte sich mit der Serviette Luft zu. »Mir ist so heiß.«
James winkte den Kellner heran. »Würden Sie uns bitte die Rechnung bringen und gleich ein Taxi rufen? Danke!«
Sheila ging zu den Toiletten. Als sie wiederkam, keuchte sie und sah aus, als könnte sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
»Sheila«, sagte James besorgt, »wir sollten einen Arzt rufen!«
»Unsinn«, sagte Sheila. Doch im nächsten Augenblick wurde sie ohnmächtig, und nur dank der Geistesgegenwart des Kellners, der sein Tablett fallen ließ und sie auffing, stürzte sie nicht vornüber auf den Boden. James zog sein Handy hervor und wählte die 999.
Sheila war schon wieder zu sich gekommen, als der Notarzt eintraf. Der Kellner und der eilends herbeigerufene Koch hatten Sheila auf eine Bank gelegt und ihr mehrere Kissen unter die Füße geschoben, während James ihr mit dem Parfüm aus ihrer Handtasche die Schläfen einrieb. Der Arzt untersuchte Sheila mit der wohltuenden Ruhe des professionellen Helfers, fragte, was sie gegessen hatte, und gab ihr eine Spritze. Bald beruhigte sich Sheilas Atmung wieder, und sogar die roten Flecken und die Schwellungen im Gesicht verschwanden.
»Wir nehmen Sie trotzdem mit ins Krankenhaus«, sagte der Arzt. »Zur Beobachtung.«
»Nein«, protestierte Sheila, »ich will nicht!«
»Sheila«, sagte James, »seien Sie vernünftig. Natürlich gehen Sie ins Krankenhaus. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig. Außerdem wollten Sie doch ohnehin bis morgen früh bleiben, nicht wahr?«
»Und mein Hotelzimmer?«, protestierte Sheila. »So eine Geldverschwendung!«
Der Arzt wendete sich an James. »Wollen Sie im Krankenwagen mitfahren?« James schüttelte den Kopf. »Danke, ichnehme ein Taxi und folge Ihnen. Wohin fahren Sie mit Mrs Humphrey?«
»Nach Hastings ins Conquest Hospital.«
Sheila warf James einen wütenden Blick zu. »Das lassen Sie schön bleiben, James. Sie fahren auf gar keinen Fall mit ins Krankenhaus. Wie sieht das denn aus. Kommen Sie morgen früh, um mich rauszuholen, meinetwegen!«
»Na gut, aber ich bringe Ihnen heute Abend wenigstens noch Ihre Sachen. Sie brauchen Handtücher, Ihren Pyjama und, nicht zu vergessen, Ihre Zahnbürste und frische Wäsche.«
»Nein, ich kann genauso gut ein Nachthemd vom Krankenhaus anziehen. Und ich werde es überstehen, mir heute Abend nicht die Zähne zu putzen. Hören Sie auf, mich zu bemuttern, James. Ich bin ein großes Mädchen!«
James überlegte, ob er sie beim Wort nehmen sollte. Meinte sie es genau so, wie sie es sagte, oder wünschte sie insgeheim, dass er sich über das, was sie sagte, hinwegsetzte? Seine Erfahrung mit Frauen sagte ihm, dass Letzteres der Fall war.
»Ob Sie wollen oder nicht, ich bringe Ihnen Ihre Tasche, Sheila.«
Sie widersprach nicht mehr.
Zurück in Eaglehurst, ließ James sich vom Taxifahrer noch bis in die Halle führen, wo sein Rollator auf ihn wartete. Welch ein Segen, auf niemanden mehr angewiesen zu sein, wenn er sich von A nach B bewegen wollte!
Mrs White saß hinter dem Tresen und tippte etwas in ihren Laptop ein. Sie schaute missbilligend auf, als sie bemerkte, dass James mit dem Rollator auf sie zusteuerte.
»Jetzt haben Sie sich also doch so ein überflüssiges Gerät angeschafft, Mr Gerald!«
»Es ist mir angenehmer so.«
Mrs White winkte ab. »Ach was, ich kenne das. Den meisten unserer Leutchen ist es am Anfang unangenehm. Sie sind viel zu bescheiden und wollen uns keine Umstände machen. Aber
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