Null-Null-Siebzig - Operation Eaglehurst
außerhalb der Stadt, sie hat mir mal ein Bild gezeigt. Ein wunderschönes Haus, nicht sehr groß, aber mit allem Luxus ausgestattet. Bestimmt ist sie im Sommer jeden Tag im Meer geschwommen. Und im Winter konnte sie die Sauna und den Whirlpool benutzen. Deshalb sieht sie auch noch so sportlich aus für ihr Alter. Ach, und die schöne Landschaft in Devon. Waren Sie schon mal in dieser Ecke, Mr Gerald?«
»Ich habe meine ersten Sandburgen am Strand von Torquay gebaut«, log er.
Mrs Simmons seufzte. »Als mein Mann und ich geheiratet haben, haben wir eine Pension in Torquay gebucht. Aber kaum waren wir dort, kam meine Schwiegermutter ins Krankenhaus, mein Mann wollte unbedingt wieder nach Hause, und wir hatten unseren ersten Ehekrach. Wissen Sie, es war gar nichts Schlimmes, nur der Blinddarm …«
James unterbrach ihren Redeschwall und lenkte das Thema wieder auf die Schwestern Hideous. »Wissen Sie, was ich mich frage? Warum ist Eleonora als Rentnerin nicht zu ihrem Sohn nach Neuseeland gezogen, statt mit ihrer Schwester ins Altenheim?«
»Seniorenresidenz«, verbesserte Mrs Simmons automatisch.
»Sie schwärmt doch so von ihrem Sohn«, fuhr James fort. Mrs Simmons zuckte die Schultern. »So ist das. Alle hier, die Kinder haben, geben mit ihnen an. Selbst dann, wenn die sich kaum blicken lassen. Keiner will zugeben, wenn er im Leben der eigenen Kinder keinen Platz mehr hat.«
»Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, was Mrs Edith Hideous gemacht hat, bevor sie hierherkam?«
Mrs Simmons’ Mundwinkel verzogen sich leicht nach unten. »Wird nichts Besonderes gewesen sein, jedenfalls gibt sie nicht damit an. Ich hab mal zufällig mitbekommen, wie sie sich mit Mrs White über das Gesundheitsamt unterhielt. Hörte sich so an, als hätte sie da irgendeinen langweiligen Bürojob gehabt.«
»Sie war nicht verheiratet?«
Mrs Simmons lachte auf. »Glaube ich nicht.«
»Warum denn nicht?«, hakte James nach.
Mrs Simmons machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die hat Haare auf den Zähnen. Und das bestimmt nicht erst seit gestern.«
Kapitel 12
James machte sich nach dem Frühstück mit seinem Rollator auf den Weg in den Salon, um dort auf Sheila zu warten. Es bot sich dasselbe Bild wie am Tag zuvor, aber sei es, dass er sich daran gewöhnt hatte oder dass die Sonne kräftig durch die großen, bodentiefen Fenster schien: Heute fand er den Anblick der zahlreichen alten und gebrechlichen Menschen, die einfach nur dasaßen und viel zu still waren, nicht mehr so erschreckend. James setzte sich an den Flügel und klappte die Abdeckung der Tastatur hoch. Als er anfing zu spielen – eine einfache Etüde, die sein Klavierlehrer ihn so lange hatte üben lassen, bis sich die Tastenfolge für immer in seinem motorischen Gedächtnis festgesetzt hatte –, blickten einige Leute auf. James staunte, wie mühelos seine Finger über die Tasten flogen, und das, obwohl er seit seiner Jugend nicht mehr regelmäßig spielte. Am Ende seiner kleinen Vorstellung applaudierten einige Zuhörer verhalten. James dachte mit einem Anflug von Dankbarkeit an den alten Lehrer. Er hörte seine dröhnende Stimme und sah die großen, muskulösen Hände mit den Wurstfingern vor sich, als wäre es gestern erst gewesen. James war es immer wie ein Wunder erschienen, dass diese klobigen Finger nicht nur donnernde Akkorde hämmern, sondern die Tasten auch flink und zart zu einem seidigen Klang verführen konnten. Jedes Mal, wenn der Klavierlehrer über James’ ungeübtes Spiel zu verzweifeln drohte, tröstete er sich mit einer großzügigen Prise Schnupftabak übersein Schicksal hinweg – ein gescheiterter Pianist, der seinen Lebensunterhalt als Klavierlehrer für unterdurchschnittlich begabte Kinder der oberen Mittelschicht verdienen musste. Das Tabaksdöschen hielt er in seinem Flügel versteckt, in seinem »Schatzkästchen«, wie er es nannte. Es befand sich in einem Hohlraum unter der Tastaturabdeckung und war leicht und unauffällig zu öffnen. »Was bin ich für ein Idiot«, murmelte James. Plötzlich war ihm klar, dass er am Abend zuvor an der falschen Stelle des Flügels gesucht hatte. Wenn William etwas darin versteckt hatte, dann sicher nicht unter dem schweren Deckel, den er, ebenso wie James, alleine kaum hätte anheben können. James vergewisserte sich, dass niemand zu ihm hinsah, klappte die Abdeckung der Tastatur hoch und hob sie aus der Verankerung. Ihm wurde heiß. In dem kleinen Hohlraum rechts neben den Tasten lag tatsächlich
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