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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lincoln Child
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ich mir nicht mehr so sicher. Sie sehen mehr und mehr nach Widmark aus.»
    Der Killer hatte sich unterdessen Zutritt zu einer Wohnung verschafft und bedrohte eine verängstigte alte Lady in einem Rollstuhl.
    «Das ist Nick Biancos Mutter», sagte Conti.
    Die Kamera blieb mit schwarz-weißer Leidenschaftslosigkeit dabei, als die alte Frau verhört und durchgeschüttelt wurde. Widmark grinste jetzt, ein irres, schiefes Grinsen, packte den Rollstuhl an den Griffen und schob ihn aus der schäbigen Wohnung und hinaus auf die Galerie.
    «Passen Sie auf», sagte Conti. «Ein unvergängliches Stück Kino.»
    Immer noch grinsend – ein bleicher, grinsender Totenschädel in einem schwarzen Anzug –, schob Widmark den Rollstuhl zum Treppenabsatz. Ein winziger Moment des Zögerns, dann stieß er ihn mit plötzlicher Wucht mitsamt seiner um ihr Leben kämpfenden Fracht nach vorn und auf direktem Weg in die Hölle.
    Conti hielt den Film an, als die Kamera in GroßaufnahmeWidmarks verzerrtes Gesicht zeigte. «Der Sender meldet sich in sechs Stunden bei mir. Ich lasse Ihnen vier Stunden Zeit, um Ihre Wahl zu treffen.»
    Marshall erhob sich schweigend.
    «Und vergessen Sie nicht, Dr. Marshall – ich werde Sie besetzen. In der einen oder in der anderen Rolle.»

19
    In den vergangenen Tagen war die Offiziersmesse ein Ort der lärmenden Geschäftigkeit gewesen und hatte die Art von Ausgelassenheit ausgestrahlt, die man eher auf einer Studentenparty vermutete als auf einer entlegenen Armeebasis. An diesem Morgen jedoch herrschte eher eine Leichenschauhaus-Atmosphäre. Leute saßen in Zweier- oder Dreiergruppen zusammen und stocherten lustlos in ihrem Frühstück. Kaum jemand sagte etwas. Verstohlene, misstrauische Blicke gingen hin und her, als könnte jeder der Schuldige sein. Marshall wurde bewusst, dass dies tatsächlich der Fall war: Jeder der Anwesenden konnte der Übeltäter sein.
    Sein Blick ging zu einem abgelegenen Tisch, an dem ein einzelner Mann saß und in einem Buch las. Er war dünn und hatte helle Haare sowie einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart: Logan, der merkwürdige Professor für Geschichte.
    Marshall nahm sich eine Scheibe Vollkorntoast und eine Tasse Tee, dann – einem Impuls folgend – ging er zu Logans Tisch und nahm ihm gegenüber Platz. «Guten Morgen», sagte er.
    Logan legte sein Buch ab –
Illuminationen
von Walter Benjamin –und blickte Marshall über den Tisch hinweg an. «Das muss sich erst noch zeigen.»
    «Zu wahr», stimmte Marshall ihm zu. Er öffnete eine kleine Packung Marmelade und verteilte den Inhalt auf seinem Toast.
    «Ich schätze, für sie ist es noch schlimmer als für uns», sagte Logan und nickte zum nächsten Tisch, wo die Kameraleute Fortnum und Toussaint saßen und geistesabwesend Rührei über ihre Teller schoben. Die meisten Mitglieder der Filmcrew waren dazu eingeteilt worden, die Basis und die nähere Umgebung nach dem verschwundenen Fossil abzusuchen.
    «Da haben Sie wahrscheinlich recht. Schließlich hat sich niemand mit meinem Lebensunterhalt davongemacht», erwiderte Marshall im leichten Plauderton. «Wie sieht’s mit Ihnen aus?»
    Logan rührte in seinem Kaffee. «Unberührt von den Ereignissen.»
    «Das freut mich zu hören. Professor, richtig? Für mittelalterliche Geschichte?»
    Das Rühren wurde langsamer. «Das ist richtig.»
    «Es ist ein faszinierendes Gebiet», sagte Marshall. «Ich muss gestehen, ich lese gerade die Geschichte der Gegenreformation.» Das war nur die halbe Wahrheit – Marshalls nächtliche Lesestunde befasste sich zwar tatsächlich mit einem Buch über die Gegenreformation, allerdings nur in der verzweifelten Hoffnung, der unglaublich trockene Stoff würde ihm den herbeigesehnten Schlaf bringen.
    Logan hob die Augenbrauen. Er besaß blaue Augen, die, obwohl sie im ersten Moment beinahe schläfrig wirkten, in Wirklichkeit scharfsinnig und durchdringend waren. «Hmmm.»
    «Ich habe gerade ein Kapitel über das Konzil von Trient gelesen.Ich finde den Einfluss erstaunlich, den es auf die katholische Liturgie hatte.»
    Logan nickte.
    «Und seit der vierten Zusammenkunft im Jahre 1572 – richtig? Seit dieser Zusammenkunft hat es kein derart einflussreiches Konzil mehr gegeben.»
    Logan hörte auf zu rühren. Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und verzog das Gesicht. «Schauderhaft.»
    «Sie sollten zu Tee wechseln. Hab ich auch getan.»
    «Vielleicht tue ich das.» Logan setzte die Tasse ab. «Es gab nur drei Konzile in Trient, nicht

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