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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Forbes
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des Leoparden gewesen. Trotz dieser Schlüsselposition hatte er wie die übrigen keine Ahnung gehabt, wie der kommunistische Résistance-Chef aussah. Die Nähe seines Chefs hatte er immer an dem warnenden Knurren des Wolfshunds César erkannt.
     Jouvel haßte das Biest, aber er gehorchte immer den Instruktionen, die man ihm gegeben hatte, und kehrte dem Tier den Rücken zu, wann immer es auftauchte. So blieb er mit seinem Notizbuch stehen, bis der Leopard erschien und ihm sagte, welche Meldung er durchgeben sollte. Nachdem er den Text notiert hatte, eilte Jouvel zu dem versteckten Sendegerät und gab den Funkspruch durch. Danach verbrannte er sofort den Zettel mit dem Text. Über den Leoparden wußte Jouvel nur, daß er ein sehr hochgewachsener Mann war; einmal, an einem sonnigen Tag, hatte er dessen Schatten gesehen.
     Wegen der Art seiner Tätigkeit aber - und der Häufigkeit dieser kurzen Zusammentreffen - war Jouvel mehr als jeder andere in dieser Résistance-Gruppe mit der Stimme des Leoparden vertraut, und Jouvel hatte ein sehr feines Gehör. In den letzten achtzehn Monaten nun - seit Guy Florians Amtsantritt als Präsident - hatte Jouvel sich bemerkenswert verändert. Alle seine Freunde hatten sich über diese Veränderung geäußert. Der normalerweise joviale und redselige Jouvel war zu einem leicht reizbaren und schweigsamen Mann geworden, der oft kaum zu hören schien, was man ihm sagte. Das häufige Auftreten des Präsidenten im Fernsehen hatte den dicklichen kleinen Mann entnervt.
     Der Witwer Jouvel hatte es sich angewöhnt, seine Abende in Bars und Cafés zu verbringen, in denen er mit Freunden zusammensaß und schwatzte. Jetzt saß er abends allein in seiner Wohnung im zweiten Stock eines Mietshauses und verpaßte keine Nachrichtensendung und kein politisches Magazin, weil er auf Guy Florians Erscheinen wartete, um ihn sprechen zu hören. Wenn Florian eine Rede hielt, saß Jouvel mit geschlossenen Augen vorm Fernseher und hörte intensiv zu. Es war makaber - diese Ähnlichkeit der Stimmen, aber es war unmöglich, völlig sicher zu sein.
     Wenn er so mit geschlossenen Augen dasaß, hätte Jouvel schwören können, daß er gerade dem hinter ihm stehenden Leoparden zuhörte, der ihm irgendeinen neuen Funkspruch auftrug, den er in jenen heute so fernen Tagen oben in den Bergen durchgeben sollte. Jouvel studierte die Manierismen der Sprache des Präsidenten, achtete auf das kurze Zögern vor einem neuen Schwall von Anwürfen, wenn Florian die Amerikaner attackierte. Zuerst sagte er sich, das sei unmöglich: Der Leopard war 1944 in Lyon ums Leben gekommen. Aber dann fing Jouvel an, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen, er erinnerte sich an die Beisetzung des Leoparden tief im Wald, der er beigewohnt hatte. Die vier Männer, die den Sarg getragen hatten - alle vier Männer waren wenige Tage später bei einem Feuerüberfall ums Leben gekommen -, hatten es sehr eilig gehabt, die Sache hinter sich zu bringen. Jouvel war damals der totale Mangel an Achtung vor dem Toten aufgefallen.
     Wenige Monate nach dem Amtsantritt Florians hatte ein unerwarteter Besuch von Oberst Lasalle, der in Zivil erschien, Léon Jouvel zutiefst erschreckt.
     »Dieser Mann, der Leopard«, hatte der Oberst gesagt, »hat Ihnen doch zahllose Funksprüche durchgegeben, also müßten Sie doch seine Stimme wiedererkennen, wenn Sie sie hören?«
     »Das ist alles so lange her …«
    Jouvel hatte nach bestem Vermögen gemauert und es fertiggebracht, seinen verrückten Verdacht vor einem der geschicktesten Vernehmungsexperten in Frankreich zu
     verbergen. Wie so viele Franzosen mißtraute Jouvel sowohl der Polizei wie der Armee; er wollte in Ruhe gelassen werden und mit Behörden sowenig wie möglich zu tun haben. Aber hatte er den scharfäugigen kleinen Obersten wirklich überzeugen können, daß er nichts wußte? Noch Wochen nach dem Besuch Lasalles geriet Jouvel ins Schwitzen, wenn er an diese Begegnung dachte. Und jetzt, nur acht Tage vor Weihnachten, hatte es heute abend diesen Zwischenfall gegeben.
     Um sechs Uhr abends schloß er wie immer seinen Laden ab und ging vom Quai des Bateliers über die Brücke in die menschenleere Altstadt zurück. Nach Einbruch der Dunkelheit ist die Rue de l’Épine eine düstere Straße, in der alte fünfstöckige Häuser mit den Schatten verschmelzen und in der das Echo von Schritten von den Hauswänden widerhallt. Die Beleuchtung ist spärlich, und man sieht nur selten einen Menschen. An

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