Nullzeit
daß sein Tod irgendwann zwischen halb sieben und halb neun Uhr abends eingetreten sein mußte.
»Sie wollten wissen, ob er normalerweise zu dieser Zeit irgendwelchen Besuch erhielt«, erklärte das Mädchen unter Tränen. »Die letzten Worte, die er zu mir sagte, waren …«
Lennox entschuldigte sich mit der Erklärung, er sei einige Zeit aus Straßburg fortgewesen und sei nur vorbeigekommen, um sich kurz zu erkundigen. »Es war keine sehr enge Freundschaft«, fuhr er fort - er war sich bewußt, daß diese Unterhaltung der Polizei gemeldet werden könnte -, »aber wir hatten gelegentlich geschäftlich miteinander zu tun.« Er sagte ihr, sein Name sei Zuger, daß er seinen Zug nach Stuttgart erreichen müsse, und damit verließ er das Geschäft. Die kurze Strecke zum Bahnhof ging er zu Fuß. Danach kehrte er über eine der Brücken in die Altstadt zurück.
Der Streifenwagen, den er vorhin gesehen hatte, stand noch immer vor dem Haus Nr. 49. Folglich verließ er die Gegend um die Rue de l’Épine. Es war ein Uhr mittags. Die Straßen Straßburgs waren sonntäglich leer, als er herumspazierte, um nachzudenken. Daran, daß Jouvel Selbstmord begangen haben sollte, konnte er nicht glauben. Der unbekannte Mann mit der Zeitung war dem Franzosen nur eine Stunde vor seinem Tod bis nach Hause gefolgt. Jouvel hatte sich einverstanden erklärt, Lennox am folgenden Morgen zu sehen - in der Erwartung, für noch mehr Geld noch mehr Informationen zu liefern. Ein Mann, der sich mit dem Gedanken an einen Selbstmord trägt, wird sich kaum für die Aussicht auf mehr Geld interessieren. Die Sache ist faul, sagte sich Lennox; mehr als das, sie stinkt. Beim Lunch überlegte er, ob er sich gleich auf den Weg zu dem zweiten Zeugen machen sollte, Robert Philip in Colmar. Dann beschloß er, damit bis Montag zu warten. Die Montagszeitungen in Straßburg würden über Jouvels Tod berichten. Vielleicht fand sich in der Presse einiges Wissenswerte.
Robert Philip, Avenue Poincar’e 8, Colmar. Das war der zweite Name auf der Liste, die Oberst Lasalle Lennox übergeben hatte. Es war auch der zweite Name auf der Liste, die Karel Vanek im Kopf hatte. Am Samstagabend bezahlten die drei Männer des Killerkommandos ihre jeweiligen Hotelrechnungen und verließen Straßburg. Die vierzig Kilometer nach Colmar fuhren sie durch einen Schneesturm. Um halb zehn abends kamen sie in der Stadt an, die mit ihren steilen Dächern und engen Gassen an eine Stadt aus einem Märchen von Hans Christian Andersen gemahnte. Auch hier ergriff Vanek wieder Vorsichtsmaßnahmen. Er setzte Lansky in der Nähe des Bahnhofs ab, so daß nur zwei Männer beim Hotel ankommen würden.
Lansky ging in die Bahnhofshalle, fragte nach der Abfahrtszeit eines Zuges nach Lyon am folgenden Tag und rauchte dann eine Gauloise, während er auf die Ankunft eines Zuges wartete - irgendeines Zuges. Aus einem gerade eingelaufenen Personenzug stiegen drei Fahrgäste aus. Lansky schloß sich ihnen an, überquerte den Place de la Gare und betrat das Hotel Bristol, in dem Vanek und Brunner sich schon eingemietet hatten. Lansky trug sich als Froissart ein. Der Empfangschef bemerkte, daß er keinen Wagen hatte, und nahm an, er sei soeben mit dem Zug aus Straßburg angekommen.
Oben in seinem Zimmer hatte Vanek schon im Telefonbuch nachgeschlagen, ob die Adresse auf der Liste mit der im Telefonbuch übereinstimmte, und anschließend auf dem Stadtplan von Colmar nachgesehen, wo die Straße lag. Er blickte auf, als Brunner ins Zimmer trat. »Dieses Hotel liegt großartig«, sagte er zu dem Tschechen. »Philip wohnt gleich um die Ecke …«
»Wenn er zu Hause ist«, erwiderte der pessimistische Brunner.
»Das sollten wir gleich feststellen …«
Vanek rief Philips Telefonnummer nicht vom Hotelzimmer aus an; dann wäre das Gespräch über die Telefonzentrale des Hotels gelaufen. Er ging mit Brunner zum Wagen. Sie fuhren etwa einen Kilometer ins Geschäftsviertel und betraten dort eine Bar, in der Vanek die Nummer wählte, die er im Telefonbuch gefunden hatte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war arrogant und brüsk: »Robert Philip …«
»Tut mir leid, habe mich verwählt«, murmelte Vanek und legte auf.
»Er ist zu Hause«, sagte er zu Brunner. »Kommen Sie, wir sehen uns das Haus einmal an.«
Die Avenue Raymond Poincaré, eine baumbestandene Straße mit düsteren, kleinen Villen und parkähnlichen Gärten hinter schmiedeeisernen Zäunen, lag an diesem Dezemberabend um halb
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