Nullzeit
Elysée-Palast erlassene Anordnung und sagte protestierend, daß die Pariser Präfektur außerhalb der Hauptstadt keinerlei Kompetenzen habe. »Dies ist mein Fall«, sagte er steif. Er erhielt einen weiteren Schock, als der Anrufer enthüllte, daß er der Pariser Polizeipräfekt persönlich sei.
»Und dieser Fall«, informierte Grelle ihn sanft, »gehört durchaus in meinen Zuständigkeitsbereich, da nicht auszuschließen ist, daß er die Sicherheit des Präsidenten der Französischen Republik betrifft …«
Trotz seines Ärgers über das, was er für eine Einmischung der Pariser Stellen in eine lokale Angelegenheit hielt, hatte Rochat immerhin Verstand genug, Boisseau anzurufen und ihn von dem vermutlichen Selbstmord zu unterrichten, bevor er sich auf den Weg zu Jouvels Wohnung machte. Der Mann in Paris feuerte eine Reihe Fragen auf ihn ab, legte auf und begab sich sofort ins Büro des Präfekten, der an diesem Sonntag arbeitete
- wie ein Jongleur, der ein halbes Dutzend Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten versucht.
»Léon Jouvel«, verkündete Boisseau, »ist soeben in Straßburg gestorben. Man nimmt an, daß er Selbstmord begangen hat. Ich glaube nicht, daß Rochat - der Mann, der da unten für den Fall zuständig ist - den Verstand mit Löffeln gefressen hat. Ich habe mir mal seine Akte angesehen - er ist sechsundfünfzig und noch immer Inspektor.«
»Muß der Tod verdächtig sein?« fragte Grelle.
»Nicht unbedingt, aber im Laufe der Jahre sind zu viele Leute gestorben, die mit dem Leoparden in Verbindung gestanden haben. Und jetzt hören wir, daß Jouvel …«
»Und«, Grelle lächelte grimmig, »da wir hier nicht vom Fleck kommen, brennen Sie darauf, es woanders zu versuchen.«
Es traf zu, daß ihre Ermittlungen in Paris bisher ergebnislos verlaufen waren. Die diskrete Überwachung von Danchin und
Blanc hatte nichts ergeben, was vielversprechend hätte sein können. Danchin, der sich wie immer mit aller Kraft in seine Arbeit stürzte, hatte in der Zwischenzeit kaum das Ministerium verlassen. Er hatte dort am Place Beauvau im Gebäude des Ministeriums eine kleine Wohnung. Anders als andere Minister, ging er oft nicht einmal zum Essen aus.
Alain Blanc hatte ebenfalls viele Stunden in seinem Ministerium zugebracht, hatte aber zweimal eine Wohnung in Passy besucht, in der er sich mit seiner Geliebten, Gisèle Manton, traf. Auch sie war beobachtet worden. Grelle hatte eine Liste, in der vermerkt war, wohin sie gegangen war und wen sie getroffen hatte. Bei beiden Ministern schien keinerlei Verbindung zu irgendwelchen sowjetischen Stellen nachweisbar zu sein. Grelle begann, sich Sorgen zu machen, ohne Boisseau gegenüber etwas davon zu erwähnen. War es möglich, daß er in der ganzen Sache irgendeinen schrecklichen Fehler gemacht hatte?... »Es ist wohl besser, Sie sehen sich in Straßburg einmal um«, sagte er. »Fliegen Sie hin, aber kommen Sie möglichst schnell wieder zurück. Ich brauche Sie hier in Paris …« Es war typisch für den Präfekten, daß er persönlich Straßburg anrief und die Leute dort über Boisseaus Kommen unterrichtete, nachdem dieser sein Büro verlassen hatte. Als er den Hörer auflegte, war er geneigt, dem Urteil seines Stellvertreters zuzustimmen: Inspektor Rochat war nicht der Mann, der das Schießpulver erfunden hatte.
Der Eigentümer, M. Jouvel, ist plötzlich und unerwartet verstorben. Das Geschäft bleibt daher bis auf weiteres geschlossen. Lennox starrte auf den maschinengeschriebenen Hinweis, der an der Glastür klebte, und betrachtete dann das Mädchen dahinter im Laden. Als er am Türgriff rüttelte, winkte das Mädchen ihm, er solle verschwinden. Als er hartnäckig blieb, starrte sie zurück, kam an die Tür und machte auf. Er nahm den Hut ab und fing an zu sprechen, bevor sie ihn beschimpfen konnte. »Ich bin ein Freund von Léon - dies ist ein großer Schock für mich, müssen Sie wissen. Können Sie mir sagen, was geschehen ist?« Louise Vallon ließ sich erweichen, weil er so höflich war - und weil ihr gefiel, was sie jetzt aus der Nähe sah. Sie war gerade von einer Unterredung bei Inspektor Rochat zurückgekommen. Sie ließ Lennox ein und erzählte ihm alle schrecklichen Einzelheiten. Lennox gewann den Eindruck, daß sie das ganze Drama irgendwie genoß, obwohl sie es fertigbrachte, in Tränen auszubrechen. Nach zehn Minuten hatte er das meiste gehört; er wußte, daß Léon Jouvel hinter seiner Badezimmertür erhängt aufgefunden worden war,
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