Nullzeit
die Wohnung rasch, bevor der Franzose nach einer Telefonnummer oder einer Adresse fragen konnte, unter der Lennox zu erreichen sei. Tief in Gedanken versunken, ging Lennox die Treppen hinunter. Das Treppenhaus war kaum erleuchtet. Bevor er über den Hof ging, rief er sich zur Ordnung: Er reiste mit gefälschten Papieren, also mußte er während seines Aufenthalts in Frankreich in jedem Augenblick wachsam bleiben. Lennox ging mit natürlicher Leichtigkeit und trat gerade aus dem Torbogen heraus, als er plötzlich heftig mit einem alten Mann zusammenstieß, der unter einem Regenschirm gebeugt daherkam. Der Mann rutschte auf den nassen Pflastersteinen aus, verlor seine dicke Brille, und sein Tirolerhut rutschte ihm halb vom Kopf. Im Licht der Straßenlaterne sah Lennox für einen Augenblick das Gesicht des Mannes. Der Mann fluchte etwas auf deutsch. »Bitte tausendmal um Entschuldigung …«
Als Lennox sich bückte, um die Brille aufzuheben, die glücklicherweise heil geblieben war, hatte er sich auf französisch entschuldigt. Unter dem Regenschirm kam eine behandschuhte Hand zum Vorschein. Der Mann nahm die Brille entgegen, ohne ein Wort zu sagen. Lennox zuckte die Achseln, als der Mann ins Haus schlurfte, dann ging er hinaus und durch die Rue de l’Épine auf den Place Kléber zu. Was Léon Jouvel gesagt hatte, ging ihm noch immer im Kopf herum.
In seinem Hauseingang war Armand Bonheur vor Kälte schon fast steif geworden. Er blieb aber auf seinem Posten und notierte im Licht seines Feuerzeugs alles, was ihm auffiel. Nach den vorhergehenden Eintragungen stand jetzt in seinem Notizbuch noch zu lesen: 18.30 Uhr. Jouvel kommt nach Hause. 18.31 Uhr. Denise Viron verläßt das Haus. 18.31 Uhr. Denise Virons Freund kommt. 19.02 Uhr. Virons Freund geht. (Bonheur hatte auf Grund der kurzen Unterhaltung auf der Straße angenommen, daß Denise Viron Lennox gut kannte.) 19.02 Uhr. Mann mit Regenschirm kommt. 19.32 Uhr. Mann mit Regenschirm geht.
11
Die Polizei fand Léon Jouvel am nächsten Morgen. Er hing tot an der Innenseite seiner Badezimmertür. »Es wird am Samstagabend passieren - sie werden den Leichnam nicht vor Montagmorgen entdecken …« Karel Vanek hatte sich das schlau und durchaus vernünftig ausgerechnet, aber selbst die schlauesten Pläne können von kleinen Unwägbarkeiten wie dem menschlichen Faktor vereitelt werden. Am Sonntag, dem 19. Dezember, würden es nur noch wenige Tage bis Weihnachten sein, und daher hatte Léon Jouvel am Samstag seine Verkäuferin, Louise Vallon, überredet, am Sonntag für ein paar Stunden ins Geschäft zu kommen, um ihm bei der Vorbereitung für den erwarteten Käuferansturm am Montag zu helfen.
»Ich zahle Ihnen das Doppelte«, hatte er ihr versprochen, »und zwar in bar, also vergessen Sie das Finanzamt. Und ich werde um halb neun hier sein, also seien Sie pünktlich …«
Um neun Uhr am Sonntagmorgen war Jouvel noch nicht aufgetaucht. Das war so ungewöhnlich, daß Louise Vallon bei ihm zu Hause anrief. Niemand nahm ab. Eine Viertelstunde später rief sie wieder an, und dann, mit zunehmender Besorgnis, alle zehn Minuten. Um zehn Uhr rief sie die Polizei an.
Der Inspektor, der die Überwachung Jouvels leitete, ein Mann namens Rochat, ging persönlich in die Rue de l’Épine. Er machte sich Sorgen wegen der Reaktion aus Paris. Nachdem er mit dem Polizeiarzt gesprochen und den Schauplatz des Todes untersucht hatte, war Rochat - der anfänglich mißtrauisch gewesen war - davon überzeugt, daß Jouvel Selbstmord begangen hatte. Als er bei der Ermittlungsarbeit den Fragen nachging, welche diese Annahme stützten, fand er sehr rasch seine Meinung bestätigt. Eine Reihe von Jouvels ehemaligen Freunden sagte ihm, wie der Franzose seit Monaten besorgt geschienen habe, daß er sich über Schlaflosigkeit beklagt und aufgehört habe, seine Abende in Lokalen zu verbringen, wie er das früher zu tun pflegte. Niemand konnte sagen, warum Jouvel sich Sorgen gemacht hatte, aber Rochat glaubte es zu wissen, als er den Fall mit seinem Untergebenen Bonheur besprach.
»Ein allein lebender Witwer - zuerst verliert er das Interesse an seinen Freunden, später sogar am Leben selbst. Das ergibt ein Muster …«
Rochats selbstzufriedene Theorie hielt genau drei Stunden. Sie brach zusammen, als er aus der Pariser Polizeipräfektur einen Anruf erhielt, bei dem ihm mitgeteilt wurde, daß André Boisseau bereits nach Straßburg unterwegs sei. Rochat vergaß die vor kurzem vom
Weitere Kostenlose Bücher