Nullzeit
noch, kurz bevor er anfuhr. Als der Zug Straßburg verließ und über die Ebene nach Süden rollte - im Westen konnte Lennox die Vogesen erkennen -, las der Engländer die Schlagzeile, die er sich im Hotel geschenkt hatte. Eine neue internationale Krise braute sich zusammen.
Das türkische Flottenkommando am Bosporus hatte vor kurzem aus dem sowjetischen Schwarzmeerhafen Odessa eine Nachricht erhalten. Die Türken wurden informiert, daß ein sehr großer Konvoi mit der Codebezeichnung K 12 die Dardanellen auf dem Weg ins Mittelmeer passieren werde. Diese Benachrichtigung erfolgte aufgrund der seit langem getroffenen Vereinbarung, daß die Sowjets größere Flottenbewegungen ins Mittelmeer vorher ankündigten und formell um die Erlaubnis zum Passieren der Dardanellen ersuchten.
Wie immer spezifizierten die Sowjets auch diesmal die Zusammensetzung des Konvois; die Meldung versetzte den zuständigen türkischen Seeoffizier in solche Aufregung, daß er sofort Ankara anrief. Der türkische Verteidigungsminister wurde mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt und gab die Meldung sofort ans NATO-Hauptquartier in der Nähe von Brüssel weiter. Aus politischen Gründen ließen die NATOBehörden die Nachricht an die Presse durchsickern. Was die allgemeine Aufregung verursachte, war die Größe des Konvois. Die Sowjets hatten sechs schwere Kreuzer avisiert (vier davon Raketenträger), einen Flugzeugträger, zwölf Zerstörer und fünfzehn große Truppentransporter. Ein derart schlagkräftiger Konvoi hatte die Dardanellen noch nie passiert. Was mochten die fünfzehn großen Transportschiffe geladen haben? Auf welchen Zielhafen nahm dieser gewaltige Konvoi Kurs?
Als der Triebwagen in Colmar einlief, faltete Lennox die Zeitung zusammen und vergaß die Schauergeschichte sehr rasch. Sie hatte immerhin nichts mit dem Job zu tun, mit dem er sich gerade befaßte. Jetzt richtete er seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf das bevorstehende Gespräch mit Robert Philip.
Am Samstag, dem 18. Dezember, um 20 Uhr hatten sämtliche Verteidigungsminister Westeuropas und Nordamerikas den Text der sowjetischen Meldung in Händen. Alain Blanc schenkte ihr erheblich mehr Aufmerksamkeit als Alan Lennox. In nur fünf Tagen sollte der Präsident in die Sowjetunion fliegen. Blanc war gar nicht glücklich über die Nachricht. Am Sonntagmorgen führte er ein kurzes Gespräch mit Guy Florian, der völlig anderer Meinung war.
»Sie werden ganz gewiß keine große internationale Krise ausgerechnet am Vorabend meines Abflugs vom Zaun brechen«, sagte er zu Blanc. »Sie sind viel zu sehr darauf bedacht, ihre guten Beziehungen zu uns zu festigen. Immerhin sind wir die stärkste westeuropäische Macht …«
Alain Blanc verließ den Elysée-Palast mit großer Skepsis. Florian hatte ihn nicht überzeugt. Blanc war jetzt weit beunruhigter als vor dem Gespräch mit dem Präsidenten. Warum war Florian mit einemmal so gelassen, was die Intentionen der Sowjetunion betraf?
Nach der Ankunft in Colmar kaufte sich Lennox am Bahnhofskiosk einen Stadtplan und entdeckte, daß die Avenue Raymond Poincaré nur wenige Meter von der Stelle entfernt war, an der er stand. Als er in die Avenue einbog und auf das Haus Nr. 8 zuging, erlebte er eine unangenehme Überraschung: Vor einer zweistöckigen, würfelförmigen Villa standen zwei Streifenwagen. Auf dem Bürgersteig waren Polizisten postiert. Lennox war sicher, daß dies Nr. 8 sein mußte, noch bevor er auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig das Haus passierte und weiterging. Ja, es war die Nr. 8. Dies war eine Wiederholung der Szene, die er erst am Vortag vor dem Haus Rue de l’Épine in Straßburg gesehen hatte. Fünfzehn Minuten später, nach einem Rundgang um ein paar Straßenblocks - um nicht an den vor der Villa stehenden Beamten vorbeigehen zu müssen -, betrat er die Bar des Hotels Bristol gegenüber dem Bahnhof.
»Was machen denn all diese Streifenwagen in der Avenue Raymond Poincaré?« fragte er beiläufig und nippte an seinem Cognac.
Der Barmann war nur zu begierig weiterzugeben, was er wußte; in einer Kleinstadt wie Colmar machen Gerüchte blitzschnell die Runde. Einer der Großkopfeten der Stadt, Robert Philip, sei am Abend zuvor in seinem Bad umgekommen, vertraute der Barmann Lennox an. Die Tragödie sei entdeckt worden, als seine Putzfrau am Morgen die Haustür verriegelt vorgefunden habe. »Sie hat nämlich einen Schlüssel«, erklärte der Barmann, »und Philip hat frühmorgens immer
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