Nur 15 Sekunden
plötzlich gesagt, dass ich hier übernachten soll? Sonst lässt du mich doch nie woanders übernachten, wenn am nächsten Tag Schule ist.»
«Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähl’s dir später, ja?»
«Bist du okay, Mom?» Dieser besorgte Ton in seiner Stimme krampfte mir das Herz zusammen.
«Klar, mir geht’s bestens. Ich bin da, wenn du aus der Schule kommst.»
«Apropos Schule, Mom … ich bräuchte noch meine Schultasche.»
Natürlich – das hatte ich völlig vergessen. «Ich frage Mr. Salter, ob er kurz vorbeikommt und sie dir mitbringt.»
Ben würde mit Henry zur Schule gehen, Rich brauchte ihn also nicht zu begleiten. Stattdessen brachte er mich zurück in mein Haus des Horrors, wo ich den Tag damit verbringen würde, Handwerkern dabei zuzusehen, wie sie Sicherheitsvorrichtungen einbauten, die ich eigentlich nicht haben wollte, aber trotzdem dringend brauchte. Schreckliche Aussichten. Doch es war nötig – und wie es nötig war. Nachdem ich die Tür abgeschlossen und alle Fenster mehrmals überprüft hatte, setzte ich mich in die Küche, um Courtney noch einmal anzurufen. Diesmal würde ich es im Büro versuchen.
Aus alter Gewohnheit griff ich erst zum Festnetztelefon, ehe mir einfiel, dass es ja für Joes Anrufe reserviert war und seine Nachrichten aufzeichnete. Seine Nachrichten. Wie oft er wohl angerufen hatte, seit Ben am Freitagabend die Telefone zum Schweigen gebracht hatte? Und wie oft seit gestern Nachmittag, als wir den neuen Anrufbeantworter angeschlossen hatten?
Dreißig Anrufe – danach hatte sich mein Anrufbeantworter geweigert, noch weitere Nachrichten aufzuzeichnen. Dazu kamen einundzwanzig weitere, die die Mailbox aufgezeichnet hatte, bevor der neue Anrufbeantworter angeschlossen worden war. Ich hörte sie mir alle an, hörte, wie Joes Verzweiflung wuchs und immer extremer wurde, wie seine Nachrichten von gespielt beiläufigen, scheinbarfreundschaftlichen kleinen Grüßen zu Erinnerungen an unsere angebliche Verabredung wurden, zu lockenden Versprechungen und schließlich zu flehentlichen Appellen. Im Lauf des Samstags hatte er mir vier verschiedene Nachrichten mit seiner Adresse und einer detaillierten Wegbeschreibung hinterlassen. Er hatte also wirklich darauf gewartet, uns, Ben und mich, in seiner Wohnung zu empfangen. In einer Nachricht war von Kerzenlicht die Rede, in einer anderen von Verrat. Die Nachrichten von Sonntagmorgen waren heftig und unverschämt, doch am Nachmittag hatte er schon wieder zu seinem fröhlich-harmlosen Ton zurückgefunden, als wäre er bereit, sich nach einem kleinen Zank wieder mit seiner Freundin zu versöhnen. Mit einer zuckersüßen Stimme, bei der sich mir die Nackenhaare sträubten, erklärte er, er sei bereit, mir noch eine Chance zu geben. Doch er erwähnte mit keinem Wort, dass er vorbeikommen würde, und sprach auch nicht davon, dass er meinen Wohnungsschlüssel hatte oder mir einen vergifteten Rest des Abendessens vorbeibringen wollte, das ich Herzlose mir hatte entgehen lassen. Aus den Nachrichten sprach mehr als genug Wahnsinn, doch sie enthielten keinerlei Beweis dafür, dass er am Abend zuvor hier gewesen war, um mein Leben noch ein Stück mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Mit der neugewonnenen Überzeugung, dass ich nicht bis Mittwoch warten konnte, um mir die bestmögliche Alarmanlage mit sämtlichen Klingeln und Sirenen und allem, was die Technik sonst noch zu bieten hatte, einbauen zu lassen, rief ich bei der Sicherheitsfirma an. Als alles Betteln nichts half, erzählte ich der Kundenbetreuerin schlicht und einfach, dass ich von einem Stalker verfolgt würde, der am Abend zuvor in meine Wohnung eingedrungen sei und meine Katzen getötet habe. Das wirkte. Sie gab mir einen neuen Installationstermin am selben Nachmittag.
Dann rief ich Jess an und hörte mir seine schlechten Nachrichten an: Wie erwartet hatten sie Joe wegen mangelnder Beweise nicht festhalten können.
«Wenn ich schon eine einstweilige Verfügung gehabt hätte …»
«Ja, dann hätten wir ihn sicher dabehalten. Aber dann hätte er vielleicht auch nicht nur Ihre Katzen getötet. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?»
«Nur zu gut.»
«Ich habe einen Durchsuchungsbeschluss beantragt. Vielleicht finden wir in seiner Wohnung Rückstände des Gifts, das die Katzen getötet hat. Das dauert vermutlich ein, zwei Tage. Bis dahin warten wir weiter ab.»
Einfach abwarten? Was stellt man mit sich an, wenn man zusehen muss, wie der Abgrund immer
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