Nur 15 Sekunden
dunkler und tiefer wird, wenn man mit aller Kraft versucht, sich irgendwie vor einem unsichtbaren Widersacher zu verbergen? Joe war wie ein giftiges Gas, das mich ständig umgab, mich schwächte, nach und nach mein ganzes Leben verpestete. Was blieb zu tun, wenn man ihn durch nichts aufhalten konnte?
Man dachte erneut darüber nach, fortzugehen. Und in der Zwischenzeit besorgte man sich eine Schusswaffe.
Ich hinterließ Courtney eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter im Büro, dann rief ich Stan an und erfuhr, dass sie noch nicht in die Redaktion gekommen war. Es war zehn Uhr. Courtney war sonst immer um sieben da. Ich fing an, mir Sorgen zu machen.
«Ich habe schon herumgefragt, aber sie hat sich bei niemandem gemeldet», sagte Stan. «Ich muss zugeben, das sieht ihr gar nicht ähnlich.»
«Ich glaube, ich weiß, mit wem sie am Freitagabend zusammen war. Ich könnte ihn mal anrufen und fragen, wie lange sie unterwegs waren.»
Das «unterwegs» entlockte Stan ein anzügliches Lachen. Er kannte sie schon länger als ich und wusste: Courtney war nicht «unterwegs» – sie kam, sah und siegte.
Jed Stevens wirkte peinlich berührt, als ich ihn nach seinen freitäglichen Unternehmungen fragte, bis ich ihm auseinandergesetzt hatte, dass ich mir Sorgen machte, weil es Courtney so gar nicht ähnlich sah, tagelang zu schweigen und einfach nicht ins Büro zu kommen, ohne jemanden zu informieren. Da gestand er schließlich: «Ja, wir waren Freitagabend zusammen. Sie war bei mir. Am Samstagmorgen gegen acht ist sie gegangen. Sie sagte, sie müsse unbedingt nach Hause.» Er klang, als wüsste er nicht recht, was von diesem frühmorgendlichen Verschwinden zu halten war.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was Courtney dazu gesagt hätte: «Wie viele Männer wären denn überhaupt die ganze Nacht geblieben? Schließlich bin ich ihm zu nichts verpflichtet.» Und je länger ich ihrer Stimme in meinem Kopf lauschte, desto besorgniserregender erschien mir ihr Schweigen. Courtney war verwegen und kühn. In vieler Hinsicht verhielt sie sich wie ein Mann, setzte ihr gesamtes Waffenarsenal ein, um zu bekommen, was sie wollte. Doch wenn es um ihre Freunde ging, war sie sehr weiblich und ließ die Kommunikation nicht einfach abreißen. Ich war mir sicher, dass sie sich mir gegenüber niemals ohne Erklärung aus der Affäre gezogen hätte. Außerdem hatte sie mir Informationen versprochen, die ich jetzt mehr denn je brauchte: Sie hatte sich für mich über Schießkurse informieren und mir eine Pistole aussuchen wollen, eine kleine, hübsche. Doch viel mehr noch brauchte ich etwas anderes, das sie mir ebenso großzügig angeboten hatte: sie selbst. Ich brauchte meine neue beste Freundin. Courtneys Schweigen war wie ein weiterer Widerhall im endlosen Schacht des Vermissens: Ich vermisste Hugo, ich vermisste Sara, ich vermisste meineMutter, und irgendwie vermisste ich auch immer noch meinen Vater. Ich vermisste all die Menschen, die ich geliebt und verloren hatte.
Ich warf einen Blick in den Garten hinaus, um zu sehen, wie weit der Elektriker mit der Installierung der Flutlichtlampen gekommen war, und ermahnte mich selbst, ruhig zu bleiben und meine eigene Angst nicht auf Courtney zu übertragen. Dann war sie eben mal für ein Wochenende abgetaucht. Dann kam sie eben mal zu spät zur Arbeit. Da musste man doch nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen.
Doch zehn Minuten später war es mit der Selbstbeherrschung wieder vorbei: Ich rief Jess an. Er stellte mir verschiedene Fragen über Courtney, doch da sich unsere Freundschaft außerhalb des Büros gerade erst zu entwickeln begann, konnte ich ihm nicht allzu viel sagen. Ich wusste nur, dass sie in einem Haus mit Portier in der Upper West Side von Manhattan wohnte, und gab ihm die Adresse durch. Auch von Jed Stevens erzählte ich ihm.
Mein Haus wurde verkabelt, und ich hatte das Gefühl, mit jedem der zahllosen elektrischen Drähte immer enger daran gefesselt zu werden. Es geschah zwar nicht gegen meinen Willen, und dennoch nahm es mir endgültig jede Möglichkeit zur Flucht. So machte ich mich stattdessen im Internet auf Reisen. Waffen. Ich wollte Waffen. Auch wenn es allem widersprach, woran ich mein Leben lang geglaubt hatte: Ich wollte eine Pistole.
Dabei stellte ich ziemlich schnell fest, dass Courtney sich getäuscht hatte: Es waren keineswegs die hübschen Pistolen, die man brauchte, um sich zu verteidigen. Die meisten Modelle waren hässliche schwarze Ungetüme, von Männern für
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