Nur 15 Sekunden
sah Rich beim Ein- und Ausatmen zu. Er lebte. Zwischendurch flüsterte ich einmal: «Ich bin bei dir, ich liebe dich.» Nur für den Fall, dass er doch wach war und mich hören konnte. Er war am Leben. Er würde durchkommen. Wenn seine Verletzungen verheilt waren, würde man ihm die Verbände abnehmen, und dann würden wir weitersehen.
Aber nun konnte ich natürlich nicht mehr mit Ben fortgehen. Noch nicht … Aber war es jetzt nicht noch dringlicher als zuvor? Ich würde Ben die Neuigkeiten schonend beibringen müssen und konnte nur hoffen, dass er verstand. Irgendetwas sagte mir, dass er sogar erleichtert sein würde. Hier hatte er einen neuen besten Freund, eine Schule, an der es ihm offensichtlich gefiel. Wir waren fast angekommen in unserem neuen Leben. Bis Joe angefangen hatte, alles zu zerstören.
Um Viertel nach fünf warf ich Rich eine Kusshand zu und ließ ihn mit offenen Augen schlafend zurück. Ich wollte zu Hause sein, wenn Ben kam. Im Aufzug nach unten schaltete ich mein Handy wieder ein und sah, dass ich eine Nachricht hatte.
War das nicht Bens neue Nummer? Ich konnte sie noch nicht auswendig, aber sie hatte zumindest dieselbe Vorwahl. Ich ließ mir die Nachricht anzeigen.
Doch es war keine SMS, es war ein YouTube-Video. Ich hatte noch nie ein Video aufs Handy geschickt bekommen und wusste nicht, wie ich es abspielen sollte. Aber wenn es von Ben kam, musste ich es mir natürlich anschauen. Irgendwanndrückte ich versuchsweise auf «Antworten», und ein kleiner Film wurde abgespielt.
Das Bild war dunkel und verschwommen, in der hektischen Eingangshalle des Krankenhauses konnte ich mich nicht recht darauf konzentrieren. Ich setzte mich in einer ruhigeren Ecke auf eine Bank, über der das Foto von einem Strand hing. Ein Strand … was hatte das mit einem Krankenhaus mitten in der Großstadt zu tun? Nach einer Minute hatte ich herausgefunden, wie ich das Video noch einmal abspielen konnte, und sah es mir an.
Ein Wagen fuhr in mittlerem Tempo eine Straße entlang, die Kamera fing ihn von hinten ein. Hin und wieder verschwamm das Bild, doch man erkannte, dass der Wagen durch eine ländliche Gegend fuhr, vorbei an Bäumen und offenen Feldern. Im Hintergrund erstreckte sich ein weiter Horizont, doch die Linse blieb die meiste Zeit auf das Auto vor ihr gerichtet. Es saß nur eine Person darin. Ein Mann? Jetzt sah ich, dass es sich um ein weißes Hybridauto handelte, genau wie unser altes Auto auf der Insel. Dasselbe Modell, sogar die gleiche Farbe. So viele gab es davon nicht.
Der Wagen fuhr weiter, dann wurde das Bild plötzlich unruhig, wackelte. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab, schien einen Baum zu rammen, das war schwer zu erkennen, dann wurde der Bildschirm schwarz. Ich spielte das Video wieder und wieder ab, bis ich ganz sicher war, was ich da sah.
Hugos Tod.
Es war unser Wagen. Und Hugo saß am Steuer. Hinter der Heckscheibe kullerte ein zusammengerolltes Plakat im Takt der unebenen Straße hin und her. Das fiel mir erst jetzt wieder ein: Ben hatte damals sein Projektplakat aus der Schule mit nach Hause gebracht, es lag bereits seit zwei Wochen im Auto, weil ich jedes Mal vergessen hatte, es mit ins Haus zu nehmen. Da rollte es nun auf der Ablage herum,während der Mann am Steuer sicher über die Landstraße fuhr. Und dann plötzlich von der Fahrbahn abkam. Und verunglückte. Ganz plötzlich, ohne jeden Grund.
Das Blut rauschte mir in den Ohren, während ich mir Hugos Tod noch einmal ansah. Erneut versank ich im reißenden Strudel des Verlusts. Die Wellen der Erinnerung spülten über mich hinweg.
Ein fünfzehnsekündiger Videoclip vom Untergang meiner Welt.
Fünfzehn Sekunden, so lang wie das Video meiner ersten Unterhaltung mit Abe Starkman. Fünfzehn Sekunden: War das die Zeitbegrenzung einer Handykamera? Nur fünfzehn Sekunden – das genügte, um mein Leben auf den Kopf zu stellen. Gleich zweimal.
Ich stand auf und wählte die Nummer, von der das Video gekommen war. Es war tatsächlich Bens Handy. Seine Mailbox schaltete sich ein. Ich legte auf … und versuchte nachzudenken.
Bens Handy lag zu Hause, wo niemand war – es sei denn, Henrys Eltern hatten ihn früher zurückgebracht als geplant. Ich rief bei Henry zu Hause an, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Dann wählte ich Henrys Handynummer, und er meldete sich: «Hallo, Mrs. Mayhew.»
«Hallo, Henry. Kann ich kurz mit Ben sprechen?»
«Wir haben ihn vor ein paar Minuten zu Hause abgesetzt.»
«Ach so.
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