Nur 15 Sekunden
Deckel mit den Fingern erreichen konnte. Er schien nur luftdicht verschlossen, nicht versiegelt zu sein.
Vom anderen Ende der Lagerhalle hörte ich Gelächter. Courtney war offenbar erfolgreich damit, die beiden Polizisten abzulenken.
Ich schob die Fingerspitzen unter den Metallrand des Deckels, doch er war so fest hineingedrückt, dass er sich kein Stück bewegte. Also zog ich meinen Schlüsselbund aus der Handtasche und hob den Deckel dann millimeterweise an. Es dauerte fast eine Minute, doch schließlich war die Öffnung groß genug, um mit den Fingern hineinzugreifen und von innen zu schieben. Ein leises Ploppen ertönte. Ich hielt inne und lauschte, doch der Nachhall blieb aus. Mit zitternden Händen nahm ich den Deckel ab und legte ihn neben mich auf den Boden.
In dem Behälter war eine große, braune Papiertüte, auf der die gleiche Belegnummer stand wie außen. Sie war oben eingerollt und mit einem Stück Tesafilm verschlossen. Weil ich Angst hatte, zu viel Lärm zu machen, wenn ich die Tüte ganz herauszog, griff ich nur in den Karton, löste den Tesafilmstreifen und öffnete ganz langsam die Tüte.
Ich erblickte einen unordentlichen Haufen von Gegenständen darin, die ein bisschen wie Äste aussahen. Es war zu dunkel, um zu erkennen, ob es sich tatsächlich um Knochen handelte. Ich konnte weder Farbe noch Form ausmachen und sah nur, dass einige länger waren als die anderen. Trotzdem hielt ich Courtneys Kamera so über den Behälter, dass man den Blitz von außen nicht sehen würde, und machte ein Foto. Im Blitzlicht erkannte ich die Knochen. Ich machte ein weiteres Foto und sah sie noch einmal: ein dreckverklebtes Häufchen aus Oberschenkel- und Fußwurzelknochen, Rippen, Handwurzelknochen, Unterkiefern, Sprungbeinen und Oberarmknochen.
Um sicherzugehen, dass die Fotos auch etwas geworden waren, sah ich sie mir auf dem Display der Kamera an und konnte dabei weitere Details ausmachen: Manche Knochen hatten noch ihre natürliche cremeweiße Farbe, andere waren schwärzlich verfärbt, knollenartig verwachsen oder gezackt, weil sie durchgebrochen waren. Da lagen sie in der Tüte, menschliche Überreste, pietätlos durcheinandergeworfen, vom Blitzlicht erhellt. Und mir kam in den Sinn, was ein Mensch mit meinem familiären Hintergrund bei einem solchen Anblick wohl oder übel assoziieren muss. Ich dachte an meinen Vater, an seine Arbeit als junger Totengräber im Konzentrationslager. Wie viele Knochenhaufen hatte er mit eigenen Augen sehen müssen? Obwohl es sich gar nicht um meine Erinnerungen handelte, fügte meine Phantasie diese Knochen zu menschlichen Skeletten zusammen, wie sie mein Vater so oft gesehen haben musste. Freunde, Nachbarn, Kollegen … Angehörige. Wie hatte sein jugendliches Gemüt all die vielen Toten verkraftet? Hatte er die Knochen wieder mit Fleisch, Augen, Ohren, einer Zunge ausgestattet? Hatte er ihnen den Lebensatem wieder eingehaucht, während er grub und beerdigte, immer wieder, grub und beerdigte, pausenlos? Ob man sie nun gekannt hatte oder nicht, man erkannte sie doch, diese Menschen, denen das Leben gewaltsam genommen worden war. Sie waren die Stimmen im Kopf meines Vaters.
«Warum habe gerade ich überlebt?», so lautete die rhetorische Frage meines Vaters, wenn ich als kleines Mädchen auf seinem Schoß saß und er mir mit seinen Erzählungen kurze Einblicke in seine schrecklichen Erlebnisse gewährte. Er war überzeugt davon, dass man diese Dinge weitergeben, vermitteln musste, damit Lektionen daraus gezogen wurden, Erfahrungen niemals verlorengingen. «Warum gerade ich und nicht die anderen?» Und dann, nach einer Pause, setzte er hinzu: «Auf manche Fragen gibt es einfach keine Antwort.»
Ich legte die Kamera neben meine Handtasche auf den Boden, faltete die Papiertüte zusammen, klebte sie wieder zu und drückte den Deckel fest auf den Behälter. Dann machte ich noch zwei Fotos ohne Blitz, die den Behälter von außen zeigten, wobei ich darauf achtete, die Buchungsnummer vollständig auf das Bild zu bekommen. Anschließend schob ich den Behälter wieder nach hinten ins Regal und den anderen davor, damit er sein Geheimnis weiter hüten konnte. Allerdings nicht mehr lange.
Als ich aus dem Gang zwischen den Regalen trat, sah ich Courtney, die am anderen Ende der Halle mit baumelnden Beinen auf Anands Schreibtisch hockte. Die drei spielten Karten.
«Ich bin fertig!» Wieder hallte meine Stimme zwei-, drei-, viermal von den Wänden wider.
Courtney ließ sich vom
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