Nur 15 Sekunden
Eckdaten zu Protokoll: Ich hatte meinen Schreibtisch für etwa zwanzig Minuten verlassen und bei meiner Rückkehr festgestellt, dass mein Notebook verschwunden war. Die Reaktion darauf überraschte mich. Offenbar waren Verlust und Diebstahl zu alltäglichen Problemen geworden, seit die
Times
jedem Mitarbeiter ein eigenes Notebook zur Verfügung stellte. Ich würde ein neues bekommen, sobald ich im Büro des Sicherheitsdienstes im zweiten Stock das entsprechende Formular ausfüllte. Ich beschloss, mir erst mein Sandwich zu holen, und vereinbarte, in einer halben Stunde vorbeizukommen.
Auf dem Weg zum Deli kochte ich vor Wut. Joe! Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er mein Notebook gestohlen hatte. Wer sollte es sonst gewesen sein? Ich sah ihn vor mir, wie er seinen Postwagen durch die Redaktion schob und sich in einem unbeobachteten Moment vor meinem Schreibtisch wiederfand. Er hatte der Versuchung des günstigen Augenblicks nicht widerstehen können und es vermutlich auch gar nicht erst versucht. Er wollte alles vonmir an sich reißen, was er nur irgendwie erreichen konnte, und das Notebook bot die beste Möglichkeit dazu. Er musste es zwischen den Briefen und Paketen versteckt haben. Ich hatte meine Festplatte zum letzten Mal am Freitagnachmittag gesichert, darin war ich äußerst gewissenhaft. Aber nun konnte Joe sämtliche Dateien einsehen. Der Rechner selbst gehörte der
Times
, er war also nicht nur ein Stalker, sondern auch ein Dieb. Gelungene erste Arbeitswoche, Kleiner! Natürlich würde ich unmöglich beweisen können, dass er den Laptop gestohlen hatte. Wenn ich ihn direkt beschuldigte, würde er alles abstreiten und meine Unterstellungen vielleicht sogar als Racheakt auslegen. Ich hatte ihm eine einstweilige Verfügung am Arbeitsplatz aufgebrummt und war jetzt enttäuscht, dass ihn das nicht weiter störte. Am Ende stand noch ich als die Verrückte da. Nein. Ich würde keinesfalls die Nerven verlieren und weitere Anschuldigungen gegen Joe erheben. Wenn Elliot zurückkam, würde ich ihm einfach erzählen, dass mein Notebook gestohlen worden war, und ihn seine eigenen Schlüsse daraus ziehen lassen.
Wie ferngesteuert bestellte ich mein Sandwich und konnte mich kaum lange genug von meinen Gedanken losreißen, um Brian hinter der Theke zu begrüßen. Als ich über die 43rd Street zurückging, bemerkte ich kaum die laute Geräuschkulisse des mittäglichen Manhattan. Der Morgen war trüb gewesen, und auch der Nachmittag schien nicht viel besser zu werden: keine Sonne, kein Regen, einfach nur trostlose, graue Wolken. Ich kam an dem Hot-Dog-Verkäufer vorbei, der sich wie immer mit seinem blaugelben Schirm vor dem Eingang des
Times-
Gebäudes postiert hatte. Ein gutes Dutzend Büroangestellte wartete in der Schlange vor dem Wagen, hinter dem der Verkäufer mit seiner Metallzange Würstchen in aufgeschnittene Brötchen schob.
«Mit Senf und Krautsalat, bitte», sagte der Kunde ganz vorn, und ich erkannte Stan, meinen Schreibtischnachbarn. Als ich ihn dort in der Schlange stehen sah, fiel mir zum ersten Mal auf, wie groß er war: Er musste über eins achtzig sein. Ich blieb stehen, um hallo zu sagen.
Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel, wie ein Mann auf mich zustürzte.
KAPITEL 7
Joe rannte mit wirbelnden Armen auf mich los, seine ungleichen Augen flackerten vor Zorn. Ein vollgepackter Rucksack schaukelte ihm auf dem Rücken und störte ihn beim Laufen. Noch nie hatte ich einen so zornigen Menschen gesehen: Die Nasenflügel blähten sich, der Mund war verzerrt, er bleckte die Zähne, und sein ohnehin blasses Gesicht war noch weißer als sonst. Die umstehenden Passanten wichen ihm instinktiv aus.
«Darcy!
Darcy
!» Seine Stimme überschlug sich wie die eines Jungen im Stimmbruch, zog sich bei einem Wort über eine ganze Oktave. Und dieses Wort war ausgerechnet mein Name. Ich fühlte mich, als hätte jemand einen Kübel eiskaltes Wasser über mir ausgeleert. Stocksteif stand ich da. «Wie konntest du so was machen? Ich habe dir doch nie etwas getan!»
«He, he!» Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Stan mit vollem Mund, den angebissenen Hotdog in der Hand, vom Verkaufsstand abwandte.
Joe blieb dicht vor mir stehen.
Mein Herz klopfte so heftig, dass ich das Blut in den Ohren rauschen hörte. Ich hielt die Papiertüte mit demSandwich so krampfhaft fest, dass sie riss, und sah Joe immer noch auf mich zustürzen, obwohl er längst stehen geblieben war. Sein wütendes Gesicht, nur wenige Zentimeter von
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