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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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waren, den ich nie richtig wahrgenommen hatte.
    Wenn im Wald ein Baum umstürzt und keiner hört es, ist das dann ein Geräusch? Ja. Es war ein Geräusch. Und Joe war immer da gewesen, er hatte in meinem Schatten gelebt, lange bevor ich ihn bemerkt hatte.
    In all diese Gedanken hinein rief mich Rich an. Als ich seinen Namen auf dem Display des Telefons sah, schossen mir zwei Gedanken durch den Kopf:
Hoffentlich sagt er unsere Verabredung für morgen früh ab, er soll mich nicht in diesem Zustand sehen
und
O nein, bitte nicht absagen!
Er sagte nicht ab. Er wollte mich ebenso gern allein wiedersehen wie ich ihn. Seine beruhigende Stimme stand in krassem Gegensatz zu dem, was ich vor mir hatte. Mit der freien Hand kramte ich beim Telefonieren weiter in Joes Kiste, doch das sagte ich Rich nicht. Und ich erzählte ihm auch nicht, wie sehr die Situation seit unserem letzten Gespräch eskaliert war. Ich wollte diese süße Vorfreude, das neue Glück in meinem Leben nicht verderben und bat ihn nur, eine Viertelstunde später zu kommen, damit ich Ben vorher noch zur Probe fahren konnte. So blieb uns nur eine Dreiviertelstunde zusammen, fünfundvierzig gestohlene Minuten; doch keiner von uns schien das für zu wenig Zeit zu halten. Wir wollten uns einfach nur nahe sein. Und Richs Stimme, die wenigen Minuten am Telefon, genügten, um mir seinen Walnussduft in Erinnerung zu rufen, seine unglaublich zarte Haut, die unter jeder Berührung nachzugeben schien wie weiches Leder.
    Nachdem ich mir jeden einzelnen Gegenstand in der Kiste angeschaut hatte, verstaute ich sie im Kleiderschrank und nahm eine Schlaftablette, die mir sechs Stunden Ruhe bescherte. Es fühlte sich zwar mehr nach Verdrängen an als nach Schlafen, doch ich war trotzdem dankbar dafür.
     
    Und dann verwandelte sich mein Bett vollkommen. Die Vorhänge sperrten den sonnigen Morgen aus, das Tageslicht, das an den Rändern hereinfiel, malte rechteckige Fenster an die Wand gegenüber, wie leere Rahmen, die nur darauf zu warten schienen, dass man die Jalousien hochzog und siemit dem Blick nach draußen füllte. Und drinnen verschlungene Glieder auf zerwühlten Laken und Decken, Kissen und Schatten. Verstreute Kleidungsstücke am Boden, als hätten zwei Teenager es kaum erwarten können. Ungeduld. Sehnsucht. Neuerwachte Zuversicht. Es war zu früh, zu gefährlich, von Liebe zu sprechen, aber es war einfach gut. Sehr gut sogar.
    Und später Stille. Ruhe. Verschränkte Finger. Das Spiel von Licht und Schatten an der Decke. Nervöse Blicke zur Uhr.
    «Ich muss los», flüsterte Rich.
    «Ich weiß. Ich auch.»
    «Wie schaffen wir es bloß, uns öfter zu sehen?»
    «Ich könnte ja mal mit Henrys Mutter reden, vielleicht erklärt sie sich bereit, die Übernachtungseinladungen aufzustocken.» Wir mussten beide lachen. Es klang zwar albern, aber im Grunde war es gar keine schlechte Idee.
    «Dass ich Bens Lehrer bin, macht es ein bisschen kompliziert.» Rich ließ zärtlich eine Hand an meiner Wange ruhen. Warm, schwer. Wunderbar.
    «Irgendwann», sagte ich, «können wir alle miteinander Zeit verbringen. Aber vielleicht sollten wir damit bis zum Sommer warten.»
    «Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber das ist noch so lange hin.»
    Ich lächelte ihn an. Natürlich war es noch lange hin bis zum Sommer, andererseits aber auch nicht, wenn wir bis dahin in diesem seltsamen Schwebezustand verharren konnten.
    «Was ist denn aus diesem Kerl geworden   … Joe?»
    «Frag nicht.»
    Sein Blick wurde aufmerksamer. «Ich frage aber. Was ist passiert?»
    «Die Kurzversion lautet: Er wurde gefeuert.»
    «Und warum?»
    «Die Personalabteilung hat ihn verwarnt, daraufhin ist er ein bisschen ausgerastet, und anschließend haben sie ihn gefeuert.»
    «Was heißt ‹ein bisschen ausgerastet›?» Rich hatte sich auf den Ellbogen gestützt und musterte mich mit besorgter Miene.
    «Er hat mir nichts getan. Es ist alles in Ordnung. Er ist vor unserem Bürohaus auf mich losgegangen, aber mir sind genügend Leute zu Hilfe gekommen. Die New Yorker sind sehr viel netter als ihr Ruf.»
    Rich blieb ernst.
    «Die Polizei hat ihn abgeführt.»
    «Dann ist er jetzt also in Gewahrsam?»
    «Nein, nicht mehr. Sie mussten ihn wieder gehen lassen.»
    «Das gefällt mir gar nicht. Wie sollen wir jetzt bloß auf dich aufpassen?»
    Dieses «wir» machte mir Mut. Rich würde mir bei alldem zur Seite stehen, das wurde mir allmählich klar. Ich erzählte ihm, was Jess mir geraten hatte, berichtete von Angela

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