Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
Vom Netzwerk:
leblosen Finger lösten sich vom Messergriff.
    Nach einem kurzen, entsetzten Schweigen ging Detective Ramirez zu Angela und band sie vorsichtig los. Dann griff er zum Telefon, um einen Krankenwagen zu rufen.
    Innerhalb kürzester Zeit trafen weitere Polizisten ein und fanden einen Tatort vor, an dem eine unheimliche Stille herrschte. Einer der Polizisten erklärte dem ersten eintreffenden Reporter: «Die junge Frau wird ganz ruhig und gefasst auf Sie wirken, aber sie steht unter Schock.» Detective Ramirez wartete, bis der Krankenwagen kam, dann musste er sich auf dem Revier einfinden, um sich von seinem Vorgesetzten eingehend befragen zu lassen. Später erhielt er eine Medaille von der Stadt, wollte sich aber nicht als Held feiern lassen. Er behauptete, nur getan zu haben, was jeder andere halbwegs anständige Mensch auch getan hätte.
    Angela lag zwei Wochen im Krankenhaus, um sich von der tiefen Stichwunde zu erholen. Und Jess Ramirez kam sie jeden Tag besuchen. Er erwartete nichts, las ihr einfach nur jeden Wunsch von den Augen ab. Sie wurden Freunde. Zwei Jahre später wurden sie ein Liebespaar. Und schließlich, mehr als sechs Jahre, nachdem sie ihn erstmals um Hilfe gebeten hatte, heirateten sie.
    «Und alles Weitere», hörte ich Angela im Geiste sagen, «ist Geschichte.»
    Auf der Fahrt zu Bens Schule – ich hatte beschlossen, den Wagen zu nehmen, weil ich mich darin verbarrikadieren konnte – dachte ich an Jess und Angela, an das, was er für sie getan hatte. Er hatte einen Menschen erschossen, um ihr das Leben zu retten. Ihrer beider Leben war das Ergebnis dieses einen Moments, das war mir klar. Und jetzt begriff ich auch, warum er mich so beharrlich auf die Gefahren hinwies, die eine einstweilige Verfügung nach sich ziehen konnte. Einen Augenblick lang fragte ich mich, warum Jess mir seine und Angelas Geschichte nicht selbst erzählt hatte. Sie war doch das perfekte Lehrstück. Aber das war eben einfach nicht seine Art. Er spielte sich selbst nicht gern in den Vordergrund, sondern versuchte, direkt undunmittelbar auf die Bedürfnisse anderer Menschen zu reagieren. Darin lag seine eigentliche Begabung. Er wusste ganz genau, was im jeweiligen Moment zu tun war. Und er war bereit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, damit sie sich nicht wiederholten   … bei anderen Menschen, wie mir.
    Später, als Ben und ich zu Hause waren, bemühte ich erneut Google und LexisNexis. Diesmal gab ich den Begriff «Stalking» ein und war erstaunt, wie viele Treffer ich erhielt. Zwei geschlagene Stunden verbrachte ich damit, mich durch die Websites zu klicken und die Beiträge zu lesen. Zahllose Geschichten, jede davon das einzigartige Schicksal eines Menschen, der in schrecklicher Angst lebte oder gelebt hatte. Und doch gab es viele Gemeinsamkeiten. Es war, als würde man jemandem begegnen, der einem sehr ähnlich sieht: Plötzlich erkennt man, dass man gar nicht so einzigartig ist, wie man immer geglaubt hat. Sondern nur einer unter vielen.
    In den USA wurden alljährlich jede 12.   Frau und jeder 45.   Mann Opfer eines Stalkers oder einer Stalkerin. Und obwohl sich alle Stalking-Fälle im Einzelnen unterschieden, ließen sich die Täter bestimmten Kategorien zuordnen. Joe qualifizierte sich als «beziehungssuchender Stalker», der unter Liebeswahn litt und krankhafte Züge an den Tag legte. Mit anderen Worten: Er glaubte tatsächlich, mich zu lieben. Und was noch viel unglaublicher war: Er ging davon aus, dass ich ihn ebenfalls liebte, trotz all meiner Bemühungen, ihn von mir fernzuhalten, ihn zu ignorieren und abzuweisen. Und ich hatte zahllose Fehler gemacht. Ich hätte niemals mit ihm zu Mittag essen dürfen, weil ihn das in seiner krankhaften Vorstellung von einer angeblichen «Beziehung» zwischen uns noch bestärkt hatte. Aber woher hätte ich wissen sollen, dass er so dachte? Über Jahre hinweg warich immer wieder mit Freunden und Kollegen essen gegangen, ohne dass etwas Vergleichbares passiert wäre. Natürlich hätte ich ihn auch nicht in der Poststelle anrufen dürfen, um ihm zu sagen, er solle mir kein Frühstück mehr bringen. Jede Form der Aufmerksamkeit, selbst negative, verstärkte den Wahn, dass ich mich für ihn interessierte. Und ich hätte auch tags zuvor nicht im Aufzug bleiben dürfen, als er mir mit dem Postwagen gefolgt war; ich hätte den Alarmknopf drücken und mir die Lunge aus dem Leib brüllen müssen.
    Was hielt uns Frauen eigentlich grundsätzlich davon ab, uns die Lunge aus

Weitere Kostenlose Bücher