Nur 15 Sekunden
dem Leib zu brüllen, wenn irgendein Verrückter uns zu nahe kam? Warum gingen wir immer brav beiseite und ließen andere durch? Warum plauderten wir nett mit Leuten, die uns unsympathisch waren? Warum fühlten wir uns immer zu Höflichkeit verpflichtet und hofften, dass man uns irgendwann in Ruhe lassen würde? Warum merkten wir nicht, wenn es Zeit war, die Notbremse zu ziehen … und zogen sie dann auch?
Aber eigentlich galt das keineswegs für alle Frauen. Es galt vor allem für mich selbst. Warum war ich vorletzten Montag nicht einfach meinem Instinkt gefolgt und gar nicht erst mit Joe in die Mittagspause gegangen? Darauf lief es doch im Grunde hinaus. Es war kein generelles Versagen der postfeministischen Frau, sondern meine ganz persönliche Schwäche. Das alte Bedürfnis, allen zu gefallen, die ständige Weigerung, auf meine innere Stimme zu hören. Courtney, mit ihren hohen Absätzen, ihren engen Jeans, den lackierten Nägeln und den Strähnchen im Haar, hätte Joe zweifellos sofort zum Teufel geschickt. Sie, die typische Femme fatale der Post-Postmoderne, hätte diese Verabredung zum Mittagessen gleich als verkapptes Date entlarvt und ohne Zögern abgelehnt.
Aber war das Ausmaß dieser Katastrophe wirklich meineSchuld? Wäre alles anders gekommen, wenn ich anfangs weniger nett zu ihm gewesen wäre?
Ich klappte das Notebook zu und legte es neben mich aufs Bett. Auf diese Fragen würde ich keine Antwort finden, ganz gleich, wie lange und intensiv ich das Internet durchforstete.
Das Abendessen bestellte ich bei unserem Lieblings-Chinesen. Sie schickten immer denselben Lieferanten, was etwas Beruhigendes hatte; doch trotzdem warf ich einen raschen Blick aus dem Fenster, ehe ich öffnete.
Als wir schon fast mit dem Essen fertig waren, klingelte es erneut. Ben und ich hörten auf zu kauen und sahen uns an.
«Du erwartest niemanden mehr, oder?», fragte ich.
«Nein. Du?»
«Nein.» Ich stand auf und spähte aus dem Fenster. Draußen stand ein braungekleideter UP S-Bote mit einem großen Paket. Ich brauchte volle fünf Sekunden, bis mir klarwurde, dass es Joes Schatzkiste sein musste, die Sara mir vor ihrem endgültigen Abschied noch geschickt hatte.
Ich wartete, bis Ben im Bett war. Dann öffnete ich sie.
Die Kiste roch nach Staub und enthielt all das, worauf Sara mich schon vorbereitet hatte. Erschöpft und verängstigt, wie ich war, fühlten sich die Gegenstände ganz unwirklich in meinen Händen an. Jedes einzelne Ding war so alltäglich und gleichzeitig doch so verräterisch, dass ich Gänsehaut bekam. Ein Buch. Ein kleiner Stapel Briefe. Das altgewordene Marzipan, kleine, bunte Früchte in leuchtenden, künstlichen Farbtönen. Die Schuhe, abgelaufene weiße Pumps, die aussahen, als hätte irgendeine imaginäre Mutter sie irgendwann auf einer imaginären Party getragen, in einer längst vergangenen Zeit, einer Zeit wie den 50er Jahren, die nach äußerlicher Perfektion strebte und das Innenleben völligvernachlässigte. Einer Zeit, als in den Nachrichten noch nicht von der Geliebten des Präsidenten oder von vermissten Kindern berichtet wurde und es nicht einmal eine Bezeichnung für Stalker gab. Und keine Möglichkeit, alte, ausgegrabene Knochen zu identifizieren.
Die Knochen
. Am Nachmittag hatte Courtney mich angerufen, um mir zu sagen, dass sie sich jetzt im kriminaltechnischen Labor der New Yorker Polizei befänden, wo sie so schnell wie möglich allen nötigen Tests unterzogen werden sollten. Wobei «schnell» im Sprachgebrauch der Stadtverwaltung durchaus auch ein, vielleicht sogar zwei Jahre bedeuten konnte. Courtney wollte den Druck mit einem weiteren Artikel etwas erhöhen.
Ich blieb lange wach und blätterte in dem Sammelalbum, das Joe über mich angelegt hatte. Es war sehr viel ausführlicher als alle Aufzeichnungen, die ich selbst besaß. Saras Einschätzung, dass es etwa zwei Jahre umfasste, schien mir plausibel: Auf der ersten Seite klebte ein Pressefoto von der Verleihung des Preises für meine journalistischen Leistungen, der mich letztlich nach Hugos Tod zur
Times
geführt hatte. Von da an hatte Joe jeden einzelnen Artikel gesammelt, den ich für die
Vineyard Gazette
oder als freie Journalistin für andere Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hatte. Dazwischen klebten immer wieder Fotos von mir und meiner Familie, meinen Freunden. Es war ebenso verblüffend wie grauenvoll, dass diese Bilder von mir, meinem Leben und den Menschen, die ich liebte, von jemandem gesammelt worden
Weitere Kostenlose Bücher