Nur 15 Sekunden
war ich ja keine gute Bekannte, sondern sein «Fall». Doch offensichtlich hatte Angela unsere zufällige Begegnung genutzt, um mir etwas mit auf den Weg zu geben. Jess musste ihr von meinen Problemen erzählt haben, und sie wollte mich etwas wissen lassen. Meine Neugier war geweckt.
Zu Hause folgte ich ihrem Rat und schaute ins Internet. Es gab ein halbes Dutzend Treffer für Angela Maria Cortez, doch nur einen einzigen im Zusammenhang mit Detective Jesus Ramirez: einen Wikipedia-Eintrag zu den berühmtesten Stalking-Fällen New Yorks. Ich loggte mich bei LexisNexis ein, und gleich darauf erschien die Liste der entsprechenden Zeitungsartikel auf dem Bildschirm.
Angela Maria Cortez war gerade achtzehn Jahre alt gewesen, als ein Freund der Familie anfing, sie zu bedrängen. Eigentlich war er kein direkter Freund, sondern nur der Cousin eines Nachbarn, der häufig zu den Festen der Familie Cortez in Queens eingeladen war und Raul manchmal mitnahm. Raul, ein dreißigjähriger Schreiner, der ebenfalls in Queens lebte, versuchte es zunächst auf die herkömmliche Weise und fragte Angela, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Sie ging einmal mit ihm essen und kam zu dem Schluss, dass er nichts für sie war. «Er war komisch», berichtetesie später, als die Zeitungen anfingen, über sie zu schreiben, «distanzlos in jeder Hinsicht, das hat mir nicht gefallen. Außerdem war er viel älter als ich. Mir ging das alles viel zu schnell.»
Nachdem sie Rauls Einladungen mehrfach abgelehnt hatte, fand Angela immer häufiger Geschenke vor der Haustür ihrer Eltern, bei denen sie damals noch wohnte. Blumensträuße, Pralinen, Bücher – die üblichen Liebesgaben. Er wollte nicht aufgeben, rief beharrlich an und wartete auf sie, wenn sie von der Arbeit in einer Reinigung kam. Und die Geschenke wurden immer bedrohlicher: Reizwäsche, Videokassetten mit Pornofilmen, ein Paar Handschellen, ein Päckchen rohes Fleisch. Angela ging zur Polizei, wo sie an Jesus Ramirez geriet, damals noch ein frischgebackener Detective ohne jede Erfahrung mit Stalkern. Stalking galt zu dieser Zeit offiziell noch nicht einmal als Verbrechen.
Detective Ramirez kombinierte die in solchen Fällen übliche Praxis mit gesundem Menschenverstand und half Angela, eine einstweilige Verfügung gegen Raul zu erwirken. Als er am nächsten Tag zum Haus der Familie Cortez kam, um Angela einen vom Richter unterschriebenen Durchschlag des Dokuments zu bringen, wartete ein Schock auf den jungen Detective, der eher zufällig seine Dienstwaffe bei sich trug.
Niemand reagierte auf sein Klingeln, doch während er vor der Tür stand und wartete, hörte er aus dem Haus ein unterdrücktes Schluchzen. Er näherte sich dem vorderen Fenster. Die Vorhänge waren geschlossen, obwohl es früh am Nachmittag war. Dann entdeckte er einen kleinen Spalt zwischen dem Rand des Vorhangs und dem Fensterrahmen, durch den er hineinsehen konnte. Und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Angela saß gefesselt auf einem Stuhl, die Hände auf denRücken, die Füße an die Stuhlbeine gebunden. Vor ihr stand Raul, die Hose bis zu den Knöcheln heruntergelassen. Sein Rücken zuckte, und obwohl Ramirez nicht genau sehen konnte, was er tat, konnte er es doch erraten. Es schüttelte ihn vor Abscheu. Aus einer Tasche der heruntergelassenen Hose ragte der Griff eines Jagdmessers.
In der Zeit, die Ramirez brauchte, um mit einem Gartenstuhl das Fenster einzuschlagen und ins Wohnzimmer zu springen, hatte Raul seine Hose wieder hochgezogen und das Messer gezückt. Er hielt Angela die scharfe Klinge an die Kehle.
«Verschwinden Sie!», brüllte er.
«Legen Sie das Messer weg!», schrie Ramirez.
«Sie gehört mir!»
«Ich sagte, legen Sie das Messer weg!»
Doch Raul drehte sich einfach um, rammte Angela das Messer in die Brust und zog es wieder heraus, um noch einmal zuzustoßen. Sie schrie auf, weinte. Blut strömte aus der Wunde, tropfte von der Klinge, die schon wieder die Luft durchschnitt, sich von neuem auf Angela zubewegte.
Detective Jesus Ramirez, mit seinen damals fünfundzwanzig Jahren einer der jüngsten und unerfahrensten Beamten der New Yorker Polizei, zog seine Waffe. Er hatte in seinem Polizistenleben durchaus schon geschossen, doch bisher waren es immer nur Warnschüsse gewesen. Noch nie hatte er einen Menschen getötet. Jetzt tat er es. Er schoss Raul eine einzige Kugel mitten ins Herz.
Raul brach zusammen, seine Augen wurden glasig, Blut quoll ihm aus dem Mund, die
Weitere Kostenlose Bücher