Nur 15 Sekunden
blau, weil das eben so ist.» Eine wenig zufriedenstellende Antwort. Ihre Mutter wiederum hatte ihr erzählt, Gott habe den Himmel mit Blaubeersaft angemalt. Und meine ebenso hilflose wie abwegige Antwort lag irgendwo dazwischen: «Der Himmel ist blau, damit wir etwas Schönes zu sehen haben, wenn wir nach oben schauen.» Eigentlich war das keine Antwort, doch sie erfüllte ihren Zweck: Ben trollte sich zurück auf die Wiese vor unserem Haus auf der Insel, um weiter kleine puschelige Schirmchen von den Pusteblumen zu blasen.
Diesmal hätte seine fragende Miene eigentlich eine echte Erklärung erfordert:
Es ist am hellen Nachmittag dunkel bei uns, weil …
Aber alles in mir sträubte sich dagegen, die Gedanken meines Sohnes mit den schauderhaften Obsessionen eines Wahnsinnigen zu vergiften, solange sich das noch irgendwie vermeiden ließ.
«Ich hatte wirklich schlimme Kopfschmerzen. Die Sonne hat mich gestört.»
«M-hm.» Er ließ den Rucksack mitten in die Diele fallen und ging in die Küche, wo es heller war als im übrigen Haus, weil hier keine Vorhänge vor den Fenstern hingen und das Zimmer zum Garten hinausging. Ben öffnete den Kühlschrank, fand offenbar nichts Ansprechendes darin, machte ihn wieder zu und drehte sich zu mir um.
«Samstag in zwei Wochen ist die Aufnahmeprüfung für die spezialisierten Highschools. Ich hab mich dafür angemeldet. Ist das in Ordnung?»
«Na sicher.»
«Die anderen Mütter rennen alle wie wild durch die Gegend und suchen nach der richtigen Highschool.»
«Das mache ich auch noch.» Schon wieder eine Lüge: Ich hatte geglaubt, dafür noch mehr als genug Zeit zu haben. Das Verzeichnis der New Yorker Schulen war mir ziemlich überladen vorgekommen, der Leitfaden dazu wie ein Buch mit sieben Siegeln. Ich hatte beides auf einen meiner Stapel gelegt und vollkommen vergessen. Ich Rabenmutter hatte mich auf die Arbeit konzentriert. Und aufs Überleben. Ich hatte nicht versucht, mit irgendwelchen Tricks die Tatsache zu verschleiern, dass mein Sohn gar nicht über die nötigen Testergebnisse verfügte, um sich an den besten weiterführenden Schulen der Stadt zu bewerben, wie das die anderen Eltern taten. Vorher hatten wir an einem Ort gewohnt, wo es keine solchen Tests gab. An dem Ort, wo sein Vater gestorben war, wo wir glücklich waren und den wir nie verlassen wollten. Niemals hätten wir uns träumen lassen, dass wir irgendwann in New York City landen würden und uns vor einem durchgeknallten Stalker verstecken müssten. Auf der Insel wären vergrabene Knochen schon längst von irgendeinem wilden Tier ausgebuddelt, überall verteilt und so, Stück für Stück, langsam der Erde zurückgegeben worden. Auf der Insel wurden Erinnerungen nicht verscharrt,um anschließend wieder ausgegraben zu werden. Das Vergangene umgab einen für immer wie eine sanfte Wolke. Genau davor war ich geflohen.
«Mr. Salter hat mich heute nach dem Kunstunterricht angesprochen.»
«Ach ja?»
«Er meinte, wenn ich mal mit ihm zurück ins Viertel fahren will, soll ich Bescheid sagen.»
«Oh. Das ist aber nett von ihm.»
«Mom, ich brauche keinen Aufpasser.»
«Wer hat denn behauptet, dass du einen brauchst?»
«Ihr tut beide so, du und dein Freund.»
«Er ist nicht mein Freund, zumindest noch nicht. Bestimmt wollte er einfach nur nett sein. Ich weiß doch, dass du keinen Aufpasser brauchst.»
«Dann kannst du ja auch aufhören, ständig vor der Schule aufzukreuzen. Das ist echt voll peinlich, Mom, verstehst du?»
Ich erstarrte. Jetzt hatte er mich ertappt.
«Verstehst du das, Mom? Außer es gibt da was, was du mir nicht sagen willst. Dabei weiß ich’s eigentlich schon. Dieser Spinner von der Arbeit belästigt dich immer noch, stimmt’s?»
Er hatte recht. Ich musste endlich aufhören, mir einzureden, dass Joe einfach von alleine wieder verschwinden würde.
«Ich habe nachgedacht, Ben. Wie würdest du es finden, wenn wir von hier fortgingen? Wir könnten woanders hinziehen, wo es ruhiger ist, wo es gute Schulen gibt, für die man keine Tests machen muss. An einen Ort, der uns beiden gefällt, irgendwohin vielleicht, wo wir noch nie waren. Das wäre doch ein Abenteuer. Nur wir zwei … wir gehen einfach weg. Nach Nordkalifornien zum Beispiel, wir könnten auf einem echten Weinberg wohnen.»
Ben hörte schweigend zu, vielleicht wartete er auch nur, bis ich fertig war. Jedenfalls hatte er eine übertrieben ergebene Miene aufgesetzt, die mir zeigte, was für einen Unsinn ich redete.
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