Nur 15 Sekunden
angerufen und ihm erzählt, was Abe zugestoßen war. Beim Klingeln des Telefons fiel mir ein, was ich vergessen hatte. Ich hatte ihm noch sagen wollen, dass die Kiste angekommen war und ich sie gern auf dem Revier abgeben würde, wenn ich Ben später von der Schule abholte. So rief ich Jess noch einmal an, mit dem Handy, um nicht versehentlich einen von Joes Anrufen entgegenzunehmen.
«Sie brauchen die Kiste nicht vorbeizubringen», sagte Jess. «Ich schicke eine Streife, um sie abzuholen.»
«Sagen Sie dem Beamten, er soll sich etwas gedulden, wenn er klingelt. Ich muss immer erst aus dem Fenster schauen, ehe ich aufmache.»
«Kein Problem. Was halten Sie davon, wenn ich einen weiteren Wagen schicke, um Ben von der Schule nach Hause zu bringen?»
«Polizeischutz?» Ich sah Bens Gesicht vor mir: verblüfft, verlegen, zornig. «Nein, vielen Dank. Ich hole ihn selbst ab.»
«Sind Sie da ganz sicher?» Jess’ Ton offenbarte mindestens so viel Mitgefühl wie Zweifel. Aber er war selbst Vater und wusste, dass er die Entscheidungen, die Ben betrafen, mir überlassen musste.
«Hören Sie, Jess, wenn es wirklich so weit kommt, dass ich meinen Sohn nicht mehr selber von der Schule abholen kann, dann werden wir von hier verschwinden.» Kaum hatte ich es ausgesprochen, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass wir damit vielleicht gar nicht so lange warten sollten. Womöglich war jetzt der richtige Zeitpunkt zu gehen, das Leben, das wir uns gerade neu aufbauten, die Menschen, die uns gerade lieb geworden waren, zu verlassen. Wir wussten ja bereits, wie das ging – schließlich hatten wir erst kürzlich ein ganzes Leben auf Martha’s Vineyard zurückgelassen. Aber wohin sollten wir gehen?
«Tun Sie das nicht», sagte Jess. «Sie wären nirgends sicherer als hier. Hier können wir wenigstens auf Sie aufpassen. Und auf ihn.»
Da hatte er natürlich recht. Trotzdem war es offensichtlich, dass Joes Besessenheit früher oder später auch auf Benübergreifen würde. Und die Vorstellung, er könnte meinem Sohn folgen, ihn beobachten, alles dokumentieren, was er tat, machte mir mehr Angst als alles andere.
Ein Polizist kam und holte die Kiste ab.
Am Nachmittag ging ich zu meinem Wagen, der einen Häuserblock weiter parkte, und glaubte bei jedem Schritt, Joe zu spüren. Wie ich ihn fürchtete, wie ich ihn hasste! Ich war wieder zu früh an der Schule und hielt den Blick starr auf den Eingang gerichtet, bis Ben mit seinen Freunden nach draußen kam. Als er mich sah, ließ er die anderen Jungs stehen, winkte mir zu und kletterte auf den Rücksitz.
«Hi, Mom.»
«Hallo, Schätzchen. Wie war’s in der Schule?»
«Ganz gut. Musst du heute gar nicht arbeiten?»
«Mir ging’s nicht so gut, da bin ich nach Hause gegangen.»
«Wenn’s dir nicht gutgeht, warum holst du mich dann ab? Ich hätte doch auch allein nach Hause kommen können.»
«Das weiß ich doch. Aber vorhin war es schon wieder besser, da habe ich mich einfach ins Auto gesetzt.»
Ich sah seine zweifelnde Miene im Rückspiegel, die buschigen Brauen, die über der Nase zusammenwuchsen, sah, wie die Gedanken hinter seiner Stirn rotierten.
In Boerum Hill parkte ich so nah wie möglich an unserem Haus und gab mir Mühe, mich auf dem kurzen Fußweg ganz normal zu verhalten. Doch als wir in die Diele traten, blieb Ben mit dem Schulrucksack über der Schulter abrupt stehen. Das gespenstische Dämmerlicht der zugezogenen Vorhänge kontrastierte zu sehr mit dem sonnigen Nachmittag draußen. Als er mich ansah, lag der gleiche zweifelnde Ausdruck auf seinem Gesicht wie damals, als er mich mit fünf Jahren gefragt hatte: «Mommy, warum hat der Himmel eine Farbe?»
Ich hatte ganz genau verstanden, was er damit meinte: warum überhaupt eine Farbe, und warum gerade blau? Inzwischen hatte ich eine Erklärung dafür, weil ich das einmal für einen Artikel recherchiert hatte. Die Erdatmosphäre ist von weißem Sonnenlicht durchtränkt, während das für uns sichtbare Licht eigentlich sämtliche Farben aufweist: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Lila und alle anderen Töne des Spektrums. Die meisten Farben werden von den Molekülen in der Atmosphäre absorbiert – alle, bis auf Blau. Das prallt von den Molekülen ab und streut sich, sodass wir es sehen. Alle anderen Farben sind also auch vorhanden, nur eben unsichtbar.
Doch als der kleine Ben mich damals ansah und auf eine Antwort wartete, war ich ratlos gewesen. Meine eigene Mutter hatte auf diese Frage erwidert: «Der Himmel ist
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