Nur Blau - Roman
vorbei war. Sie schaute nach unten auf das verpackte Bild. Wie es dastand und wartete, sie sollte es hochheben, es in ihr Leben lassen, es aus dem Papier heben und anschauen. Aber sie wollte es nicht. Konnte es nicht. Es war wie eine Hand, die sich ihr entgegenstreckte, eine Hand, die gehalten werden wollte, die sie berühren sollte, eine Hand, die auf ihr kleben, die sie nicht mehr loslassen würde, die brennen würde auf ihrer alten, faltigen Haut. Sie wollte diese Hand nicht. Und trotzdem kniete sie sich hin und begann, das Bild aus dem Papier zu schälen, es freizulegen, langsam und ängstlich. Als sie sah, dass es blau war, nur blau, stoppte sie. Wut stieg in ihr auf.
Ein blaues Bild, ohne etwas sonst, gar nichts. Nur blau.
Nicht einmal eine Linie hatte er zu Stande gebracht.
Die vertrauten Gedanken kamen wieder, die Enttäuschung über ihren Sohn.
Sein Leben war nicht mehr als ein blaues Bild. Das war es also, was ihm wichtig gewesen ist. Zorn stieg in ihr auf. Sie hatte diesen Taugenichts auf die Welt gebracht, sie hatte ihn getötet in sich. Sie würde ihn nicht wieder auferstehen lassen.
Sie wickelte das Papier wieder um das Bild und stand auf.
Ihr Sohn war tot. Mosca hatte die Beerdigung organisiert, mit dem Bestatter gesprochen und den Sarg ausgesucht, sie hatte nichts mit alledem zu tun haben wollen. Mosca hatte sie angerufen, ihr gesagt, was passiert war. Das Gespräch war kurz. Er war nicht fähig zu reden, alles hat ihm weh getan. Eine Stunde später rief sie zurück und kündigte an, sie werde eine Vollmacht nach Frankfurt schicken.
Ich möchte nichts damit zu tun haben, hatte sie gesagt. Dann legte sie auf.
Mosca warf das Telefon an die Wand. Dann die Vase, die auf dem Couchtisch stand, dann den Couchtisch. Nur knapp verfehlte er ein Monochrom.
Jos Mutter schlüpfte in ihre Pantoffeln. Sie nahm den Schlüssel, das Bild unter den Arm und ging ins Treppenhaus, von dort in den Innenhof. Sie ging auf die Mülltonnen zu, hob einen Deckel und warf das Bild hinein.
Dann ging sie zurück in ihre Wohnung.
Mosca saß in einem Taxi zum Flughafen.
Er wollte zurück nach Frankfurt. Er würde sich auf die weiße Couch setzen und unter den Bildern sitzen, Jos Bildern. Er würde mit Jos Blau alleine sein, nur er und das Blau. Er würde eine Flasche Wein öffnen und das Leuchten der Bilder genießen. Dann würde er in seinem Bett liegen und schlafen bis zum Morgen. Dann würde er den nächsten Schritt tun. Eigentlich war er glücklich. Er empfand eine tiefe Ruhe, die sich in ihm ausgebreitet hatte. Er war Jo jetzt näher als jemals zuvor, er hatte verstanden, was er meinte, was er in den Bildern gesucht, was er dort gefunden hatte. So viele Tage war er auf dem weißen Sofa gesessen und hatte sie angeschaut, hatte gegessen vor ihnen, geschlafen, ist aufgewacht mit ihnen, sie hatten ihn durch den Tag begleitet.
Nach Jos Tod hat er die Wohnung kaum verlassen, er hat sich nicht wegbewegt von den Bildern, er ist bei ihm geblieben, er war verbunden mit ihm, er hat ihn verstanden irgendwann und dann seine Entscheidung getroffen. Er war zufrieden jetzt. Er hatte begonnen zu tauchen und die Ruhe in der Leere zu spüren.
Jos Mutter hatte ihn kurz aus diesem Glück herausgerissen, hatte ihn an alte Gefühle erinnert, sie hatte ein Tor in die schmerzhafte Vergangenheit geöffnet, das verschlossen gewesen war.
Er hatte Jo über alles geliebt, aber jetzt wollte er ihn gehen lassen, er konnte ihn loslassen nach Monaten, er konnte sich erinnern, ohne dass es weh tat, er konnte akzeptieren, dass Jo nicht mehr da war.
Als er ihn auf dem weißen Marmorboden gefunden hatte, war alles zusammengebrochen, und er musste die einzelnen Teile, die verstreut herumlagen, erst wieder zusammenfügen. Er hatte seit einem Jahr nicht gearbeitet, kein Buch besprochen, Auftritte abgesagt und bereits Vereinbartes an Kollegen abgegeben. Er hatte keine Lust, sich auf andere Geschichten einzulassen, seine eigene war so groß geworden, dass sie jeden Platz für etwas anderes nahm. Finanziell musste er sich nicht sorgen. Langeweile kannte er nicht. Er trauerte. Dann verabschiedete er sich und plante seine Zukunft.
In der Wohnung hat er nichts verändert, er hat alles so belassen wie es war, nicht, weil er in der Vergangenheit bleiben wollte, sondern weil er es schön fand. Sie hatten die Wohnung gemeinsam eingerichtet, den Marmor ausgesucht, die Möbel, das Licht, sie trafen sich in ihren Geschmäckern, obwohl sie unterschiedlicher nicht
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