Nur dein Leben
Weniger als zwanzig Prozent. Nur der rosa eingefärbte Teil auf der Karte. Der durchschnittliche Landbewohner der Dritten Welt erhält in seinem ganzen Leben weniger Informationen als in einer einzigen Ausgabe der
LA Times
enthalten sind.«
Ein Telefon klingelte. Er warf einen kurzen Blick auf die Nummer auf dem Display und ließ es klingeln. Nach ein paar Augenblicken verstummte es. »Naomi«, sagte er sanft, »vielleicht behagt Ihnen diese Tatsache nicht, aber Sie sind bereits Mitglied einer privilegierten Klasse. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen auf der Erde gibt, mit denen Sie bereitwillig tauschen würden. Ich glaube nicht, dass es Ihnen gefiele, wenn Ihr Kind in der russischen Tundra, auf einer Teeplantage im Himalaja oder in einem Dorf in der Wüste Gobi aufwachsen müsste. Habe ich recht?«
»Natürlich.«
»Doch andererseits würden Sie das Risiko in Kauf nehmen, dass Ihr Sohn in einer Art intellektueller Dritter Welt endet?«
Schweigend sah sie ihn an.
»Wir stehen erst am Anfang«, fuhr Dettore fort. »In dreißig Jahren werden alle Kinder aus den Familien oder Nationen, die es sich leisten können, genetisch optimiert werden. Sehen Sie sich die Punkte auf unserer Liste genau an. Im Augenblick sind es nur Optionen, aber wenn Sie einmal in einer Welt leben, in der jede zukünftige Mutter auf dieser Liste ihre Häkchen setzt, würden Sie dann alle Kästchen unausgefüllt lassen? Bestimmt nicht! Nicht, wenn Sie kein absolut unterprivilegiertes Kind haben wollen – eines, das nicht mithalten oder in dieser Welt konkurrieren kann.«
»Ich werde Ihnen sagen, was mir an dieser ganzen Sache nicht gefällt – und ich weiß, dass das auch für John gilt, weil wir in den vergangenen Monaten, nachdem Sie uns akzeptiert hatten, unablässig darüber diskutiert haben. Und zwar ist es genau das – dieser ganze Eugenik-Gedanke. Er hat eine schlimme Vergangenheit und weckt schlimme Assoziationen.«
Dettore setzte sich auf den Rand seines Schreibtischs und lehnte sich zu Naomi. »Wenn wir niemals versuchen würden, das Erbgut unserer Nachkommen zu verbessern, nur weil vor achtzig Jahren ein Verrückter namens Hitler es versucht hat, dann haben wir meiner Meinung nach zwar den Zweiten Weltkrieg gewonnen, aber Hitler hat den Frieden danach geprägt.« Mit tiefernster Miene fuhr er fort: »Edward Gibbons hat geschrieben:
Alles Menschliche muss degenerieren, wenn es sich nicht weiterentwickelt.
Er hatte recht. Jede Zivilisation, jede Generation, die sich nicht weiterentwickelt, wird irgendwann untergehen.«
»Aber hat Einstein nicht gesagt, wenn er gewusst hätte, dass aus seiner Arbeit die Atombombe hervorgehen würde, wäre er lieber Uhrmacher geworden?«, entgegnete Naomi.
»Richtig«, erwiderte Dettore. »Und wenn Einstein Uhrmacher geworden wäre, würden wir heute möglicherweise in einer Welt leben, in der Hitlers Eugenik unsere Zukunft bestimmte.«
»Anstatt Ihre?«, fragte Naomi. Sofort bereute sie die Bemerkung. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es war nicht meine Absicht …«
»Ich glaube, sie wollte nur die eine Perspektive mit der anderen vergleichen«, fiel John rasch ein.
»Schon gut, die Argumentation ist schlüssig«, sagte Dettore. »Den Vergleich haben schon viele angestellt. Ich wurde als Antichrist, Neonazi, Dr. Frankenstein und wer weiß was bezeichnet. Ich hoffe nur, dass ich menschlicher bin als Hitler. Und demütiger.«
Er lächelte so sanftmütig und entwaffnend, dass es Naomi leidtat, ihn beleidigt zu haben. »Ich wollte wirklich nicht so einen krassen …«
Der Genetiker sprang auf, ging zu ihr hinüber und nahm sanft ihre Hand. »Naomi, Halley zu verlieren muss die Hölle für Sie gewesen sein, und jetzt machen Sie wieder eine furchtbar schwierige Zeit durch. Die vier Wochen auf diesem Schiff werden sowohl körperlich als auch seelisch sehr anstrengend für Sie werden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass Sie jederzeit sagen, was Sie denken, und dass Sie rechtzeitig erkennen, wann Sie den Punkt erreicht haben, an dem Sie aufhören und aussteigen wollen. Wir müssen ehrlich zueinander sein. Einverstanden?«
»Danke«, sagte sie.
Er ließ ihre Hand los, blickte ihr aber weiterhin in die Augen. »Die Welt verändert sich, Naomi, aus diesem Grund sind Sie und John hier. Weil Sie klug genug sind, das zu erkennen.«
Eine ganze Weile lang sagte keiner etwas. Naomi blickte aus dem Fenster auf das weite blaue Wasser und das Containerschiff, das noch immer am Horizont
Weitere Kostenlose Bücher