Nur dein Leben
sichtbar war. Sie sah ihren Mann an, dann den Genetiker, dann das Formular. Sie dachte an Halley und rief sich den Grund ins Gedächtnis, aus dem sie hier waren.
Die Dreyens-Schlemmer-Krankheit greift das Immunsystem des Körpers ähnlich an wie AIDS , nur viel aggressiver. Sie bricht allmählich die Molekularstruktur in den Wänden der Abwehrzellen auf, was nicht nur zum ungehinderten Eindringen von Viren und Bakterien führt, sondern auch zu einer Autoimmunreaktion – der Körper greift sich selbst an. Halleys eigenes Abwehrsystem wurde zu ätzender Säure, die buchstäblich seine inneren Organe zerfraß. Er war gestorben, nachdem er zwei Tage lang unablässig vor Schmerzen geschrien hatte. Kein Mittel konnte ihm helfen und Blut floss ihm aus Mund, Nase, Ohren und After.
Die Dreyens-Schlemmer-Krankheit war 1978 von zwei Wissenschaftlern an der Heidelberger Universität identifiziert worden. Weil sie so selten war und immer nur etwa hundert Kinder auf der ganzen Welt betraf, war ihre Entdeckung eher von akademischem Interesse. Pharmafirmen waren nicht daran interessiert, weil sich die Forschungs- und Herstellungskosten für ein Medikament niemals rentiert hätten. Der einzige Weg, Dreyens-Schlemmer zu besiegen, bestand darin, die Krankheit im Laufe eines langwierigen Prozesses aus der menschlichen Spezies herauszuzüchten.
Die meisten Menschen, die das seltene Gen in sich trugen, bekamen gesunde Kinder. Nur in dem extrem seltenen Fall, wenn zwei ahnungslose Träger des rezessiv vererbten Gens zusammen ein Baby zeugten, kam die Krankheit zum Ausbruch.
Weder in Johns noch in Naomis Familie hatte es jemals Fälle von Dreyens-Schlemmer gegeben – soweit sie wussten. Doch nach Halleys Geburt – also viel zu spät – hatten sie entdeckt, dass sie beide dieses Gen vererbten. Was bedeutete, dass das Risiko bei jedem Kind eins zu vier stand, davon betroffen zu sein.
Naomi erwiderte Dettores Blick und sagte: »Sie irren sich. Die Welt mag sich verändern, aber ich bin nicht intelligent genug, um zu verstehen, in welcher Art und Weise. Vielleicht will ich es auch gar nicht verstehen. Es macht mir Angst.«
8
IN DEM VERLASSENEN FITNESSRAUM trommelten Johns Schuhe auf das Laufband. Es war zehn vor sieben am nächsten Morgen. Der Schweiß strömte ihm über das Gesicht und den ganzen Körper, Tropfen zogen Streifen auf seiner Brille und behinderten seine Sicht auf den Fernseher, der auf Wirtschafts- CNN eingestellt war und Listen der gestrigen NASDAQ -Kurse bei Börsenschluss zeigte.
Schon als Kind, ja, solange er denken konnte, war John von Wissensdurst getrieben gewesen. Im Frühjahr fing er Kaulquappen und beobachtete, wie sie Beinchen bekamen, ihre Schwänze abfielen und sie sich zu winzigen Fröschen entwickelten. In den Ferien drängte er seine Mutter jedes Mal, mit ihm von ihrer Heimatstadt Örebro in Mittelschweden aus nach Stockholm ins Naturkunde- sowie ins Wissenschafts- und Technikmuseum zu fahren. Mit achtzehn besuchte er eine Sommerschule in London, um sein Englisch zu verbessern und verbrachte die drei Monate größtenteils im British Museum sowie in den Museen für Wissenschaft und Naturkunde.
Besondere Bewunderung hegte John für die großen Wissenschaftler vergangener Zeiten: Archimedes, Kopernikus, Galileo, Newton und Pasteur, deren Arbeiten seiner Meinung nach unsere moderne Welt geformt hatten. Außerdem hegte er höchste Ehrfurcht vor den großen Gestalten der Physik und Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts: Einstein, Fermi, Oppenheimer, von Neumann, Feynman, Schrödinger und Turing, deren Erkenntnisse zukunftsweisend waren. All diese Menschen hatten für ihre Forschungen ihre Lebenszeit geopfert und ihren Ruf aufs Spiel gesetzt.
Hätte man John nach seinen Zielen gefragt, hätte er geantwortet, dass er nicht nach Reichtum strebte, sondern sich wünschte, seinen Namen einst im Olymp jener anderen Wissenschaftsgrößen wiederzufinden. Mit zehn Jahren hatte er kurz nach dem Tod seines Vaters, eines Träumers und verkrachten, hoch verschuldeten Geschäftsmannes, eine Liste der Ziele angelegt, die er im Leben erreichen wollte:
ein anerkannter Wissenschaftler werden
die Welt verbessern
die menschliche Lebensspanne verlängern
für Mama sorgen
den Schmerz aus der Welt schaffen
ein guter Vater sein
Wann immer John niedergeschlagen war, sah er sich die Liste an. Als Teenager hatte er sie irgendwann aus seinem kleinen roten Notizbuch auf seinen Computer übertragen und später immer wieder von
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