Nur dein Leben
Overall, der herausgekommen ist, um sie willkommen zu heißen und ihnen das Gepäck abzunehmen. Er hält eine Tür auf.
Sie überschreiten die Schwelle zur Kajüttreppe und folgen ihm. Hinter ihnen schlägt der Wind mit lautem Knall die Tür wieder zu. In der plötzlichen Stille sehen sie eine eingerahmte Seekarte an der Wand, spüren die Wärme und riechen die Farbe und den Bootslack noch deutlicher als draußen. Der Boden unter ihnen dröhnt. Naomi drückt Johns Hand. Schiffsreisen liegen ihr nicht, so ist es schon immer gewesen – ihr wird schon auf einem Teich in einem Ruderboot schlecht –, und jetzt kann sie nicht einmal etwas gegen ihre Seekrankheit einnehmen. Keine Tabletten, keine Arznei – sie wird allein damit zurechtkommen müssen. John erwidert den Druck ihrer Hand, um sie zu trösten. Und auch sich selbst.
Tun wir das Richtige?
Diese Frage hat er sich tausendmal gestellt und wird noch viele Jahre lang damit hadern. Doch ihm bleibt nichts anderes übrig, als Naomi und sich selbst zu versichern, dass dies wirklich das Richtige ist. Das ist es. Nichts anderes. Das Richtige.
Ja, das tun wir.
2
IN DER WERBEBROSCHÜRE für diese schwimmende Klinik war die Kabine, die für den kommenden Monat die ihre sein sollte, als Luxusunterkunft gepriesen worden. Die Einrichtung bestand aus einem Kingsize-Bett, einem winzigen Sofa, zwei ebenso kleinen Sesseln und einem runden Tisch, auf dem eine Obstschale stand. Hoch oben in einer Ecke liefen auf einem Fernseher mit schlechtem Empfang die CNN -Nachrichten. Präsident Obama hielt eine Rede, die man durch die atmosphärischen Störungen nur zur Hälfte verstehen konnte.
Das marmorverkleidete Badezimmer bot trotz seiner Enge tatsächlich gehobenen Komfort – jedenfalls hätte es das getan, so dachte Naomi, wenn es nicht so geschaukelt hätte und sie darin hätte stehen können, ohne sich an irgendetwas festhalten zu müssen. Sie kniete sich hin, um den Inhalt von Johns Reisenecessaire aufzusammeln, der auf dem Boden umherrollte. Dann stand sie rasch auf, weil eine schwindelerregende Welle der Übelkeit sie überfiel.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte John.
Sie schüttelte den Kopf. Dann brachte sie die nächste große Woge aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte in die Kabine und ließ sich schwer auf das Bett fallen, ganz knapp neben Johns Computer. »Ich habe das Gefühl, mir bleiben nur noch etwa vier Minuten zum Auspacken, bis ich schrecklich seekrank werde.«
»Mir ist auch ein bisschen übel«, gestand John, der gerade einen Blick auf die Sicherheitsvorschriften warf. Sie zeigten die Sammelpunkte und eine Anleitung zum Anlegen einer Rettungsweste.
»Warum nimmst du keine Reisetablette?«, fragte sie. »Du darfst es doch.«
»Wenn du keine nehmen darfst, will ich auch keine. Ich leide mit dir.«
»Märtyrer!« Sie beugte sich nach vorn und küsste ihn auf die Wange, getröstet von seiner warmen, rauen Haut und seinem betörenden, leicht nach Moschus duftenden Eau de Toilette, ja, schon allein von der seelischen und körperlichen Stärke, die er ausstrahlte. Bereits als junges Mädchen im Kino hatte sie sich stets zu den starken, unauffällig intelligenten Helden der Leinwand hingezogen gefühlt – die Art von Vater, den sie gerne gehabt hätte. Als sie John vor acht Jahren zum ersten Mal erblickt hatte, in einer Schlange vor einem Skilift in Jackson Hole, Wyoming, hatte sie in ihm genau diese begehrenswerte Kombination von gutem Aussehen und innerer Stärke erkannt.
Sie küsste ihn noch einmal. »Ich liebe dich, John.«
Als er ihr in die Augen sah, die manchmal grün, manchmal braun funkelten, lebendig und von tiefem Vertrauen erfüllt, empfand er großes Mitgefühl mit ihr. »Und ich bete dich an, Naomi. Ich bete dich an und bewundere dich.«
Sie lächelte wehmütig. »Ich bewundere dich auch. Du ahnst nicht, wie sehr.«
Für einige Augenblicke herrschte ein behagliches Schweigen zwischen ihnen. Nach Halleys Tod hatte es lange Zeit gedauert, bis zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war, und in diesen ersten beiden sehr schlimmen Jahren hatte Naomi mehr als einmal befürchtet, ihre Ehe sei zerrüttet.
Er war ein kräftiges Kind gewesen. Sie hatten ihn nach dem Kometen benannt, weil John sagte, er sei etwas Besonderes und Kinder wie er würden höchstens alle fünfundsiebzig Jahre einmal geboren – vielleicht sogar noch seltener. Sie hatten beide nicht gewusst, dass er eine tickende Zeitbombe in sich trug.
Naomi bewahrte noch immer sein Foto
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