Nur dein Leben

durch den Kopf.
Vielleicht bin ich als Mann mit einer Vision hierhergekommen,
dachte er.
Jetzt fühle ich mich wie ein Priester, der mit seinem Glauben hadert.
    Wenn wir Luke nicht mit allem ausstatten, was möglich ist, und damit seine Chance verspielen, ihn zu etwas wirklich Besonderem zu machen, werde ich es dann später bereuen? Werde ich als alter Mann davon träumen, was hätte sein können, wenn ich nur den Mut dazu gehabt hätte?

9
    Naomis Tagebuch
    Man kann sich kaum vorstellen, wie weh das tut. Die Spritze, die mir die Krankenschwester jeden Morgen setzt, um die Reifung der Eizellen anzuregen, fühlt sich an, als würde man mir einen Nagel in den Oberschenkelknochen rammen. Wieder einmal habe ich versucht, Yvonne über die anderen Patienten hier auszuhorchen, aber sie klappt jedes Mal zu wie eine Auster. Als hätte sie Angst, etwas zu verraten.
    John ist wunderbar, sehr liebevoll, ohne mich in irgendeiner Weise unter Druck zu setzen. So offen wie jetzt sind wir zuletzt miteinander umgegangen, bevor unser armer Halley geboren wurde. Nachts halte ich ihn in den Armen und sehne mich danach, mit ihm zu schlafen, aber das dürfen wir nicht. Wir mussten schon zwei Wochen vor unserer Ankunft damit aufhören und müssen auch nachher noch wochenlang warten. Das fällt uns schwer. Wir brauchen diese Nähe.
    Jeden Tag kommt mir dieser Ort merkwürdiger vor. Die Atmosphäre auf dem Schiff ist wirklich seltsam – wir wandern umher und begegnen niemandem – außer ab und zu einer Putzfrau, die ein Geländer poliert. Wo sind denn bloß alle? Sind die anderen Patienten so schüchtern? Wie viele sind hier? Ich würde so gerne mit jemandem reden, einem anderen Paar, um mich mit ihnen auszutauschen.
    Vierhunderttausend Dollar! Ich denke an das viele Geld. Sind wir egoistisch, weil wir es für unser ungeborenes Kind ausgeben? Hätten wir es besser notleidenden Kindern, den Armen oder der medizinischen Forschung spenden sollen, anstatt es zu verschleudern, um einen einzigen neuen Menschen in die Welt zu setzen?
    In Momenten wie diesen würde ich gerne Trost und innere Klarheit im Gebet suchen. Doch meinen Glauben an Gott habe ich verloren, als er mir Halley genommen hat, und das habe ich ihm auch gesagt.
    Wie geht es dir, Halley, mein Schatz? Geht es dir gut? Du solltest uns eigentlich Rat geben, du warst so ein kluges Kind. Das klügste, das ich je gekannt habe.
    Der Gedanke an dich hält mich hier fest. Ich denke an dein Gesicht, wenn die Nadel eindringt und ich in mein Taschentuch beiße. Dieses Leid, das du ertragen musstest! Wir möchten jetzt wieder einen Sohn haben, einen, der vielleicht klug genug ist, etwas wirklich Gutes auf dieser Welt zu bewirken.
    Luke.
    Wir hoffen, dass Luke sensationelle wissenschaftliche Entdeckungen machen wird, wir hoffen, dass er klug genug sein wird, wirklich etwas zu verändern. Damit in Zukunft kein Kind mehr so sterben muss wie du.
    Heute haben wir uns mit den sogenannten Haushaltsgenen beschäftigt. Ein lustiger Name! Die Haushaltsgene sind nicht-regulierte Gene, die zum Beispiel die Schweißabsonderung, die Blutverklumpung, die Wundheilung – etwa bei Knochenbrüchen oder Hautverletzungen – sowie den Adrenalinausstoß beeinflussen. Darüber brauchten wir nicht lange nachzudenken. Luke wird schneller und besser von jeder Verletzung genesen als jeder andere, das muss ja etwas Gutes sein.
    Die raffinierteste Arbeit leistet Dr. Dettore in dieser Gruppe jedoch mit den Reaktionen auf Adrenalin. Er hat uns klargemacht, wie wenig die Evolution mit der Entwicklung des modernen Lebens Schritt gehalten hat: Adrenalin wird ausgestoßen, wenn wir nervös sind, und es verleiht uns Energie, wenn wir vor einem Angreifer davonlaufen müssen. Das war damals praktisch, wenn plötzlich ein Säbelzahntiger im Höhleneingang stand. Aber wenn heutzutage die Steuerprüfung oder sonstwer vor der Tür steht, möchten wir nicht gerne anfangen zu schwitzen und zu zittern, sondern ruhig und entspannt bleiben, mit einem so klaren Kopf wie möglich.
    Mit anderen Worten: cool bleiben. Diese Option reizt mich, weil sie mir so sinnvoll erscheint. Aber wir haben nicht zugestimmt, bis jetzt zumindest nicht, weil wir unsicher sind, ob wir einen so entscheidenden Teil von Lukes köpereigenen Verteidigungsmechanismen manipulieren sollten.
    Ich denke jetzt schon als Luke an ihn. Darüber sind wir uns beide einig. Doch jetzt stehen wir vor einer neuen Frage – einer wirklich beunruhigenden.

10
    »MITGEFÜHL«,