Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:
finden.«
»Du lügst«, sagte Hanna noch einmal.
»Darf ich mit deiner Mama oder deinem Papa sprechen?«, fragte Barbro.
»Die sind nicht hier. Das weißt du doch.«
»Gibt es jemand anderes, mit dem ich sprechen kann?«
»Nein, das hab ich dir doch gesagt. Du bist dumm.«
»Ich habe an ganz vielen Stellen nach dir gesucht, Hanna! Jetzt weiß ich, wo du wohnst, und ich kann dich auch anrufen. Bald kommt ein netter Onkel und hilft dir.«
»Ich weiß«, sagte Hanna.
»Du hast das schon gewusst?«, wunderte sich Barbro.
»Ja, er hat angerufen und es gesagt.«
Dann fiel ihr ein, dass sie Teddy doch versprochen hatte, dass es ihr Geheimnis bleiben sollte, dass sie es niemandem erzählen durfte.
»Mein Papa kommt gleich«, sagte sie schnell.
»Bist du da sicher?«, fragte Barbro.
»Ja«, sagte Hanna. »Er ist Hamburger kaufen gegangen, und die essen wir gleich.«
»Aber … Dein Vater ist also wieder nach Hause gekommen?«
»Nein, er ist Hamburger kaufen gegangen, das hab ich doch schon gesagt.«
»Na, das ist ja toll, Hanna! Dann bist du jetzt nicht mehr länger allein?«
»Genau. Tschüß!«, sagte Hanna knapp und legte den Hörer auf.
Barbro war es mit Hilfe der Internetseite Eniro gelungen, die Telefonnummern aller Haushalte in der Ploggatan 20 herauszufinden, bis auf einen, der eine geheime Nummer hatte. Jetzt zur normalen Arbeitszeit hatte sie sich darauf eingestellt, eine Weile am Telefon verbringen zu müssen, ohne dass sich jemand meldete. Aber zu ihrer großen Freude hatte sich bereits bei ihrem dritten Anruf die kleine Hanna gemeldet.
Als das Mädchen so plötzlich wieder aufgelegt hatte, war ein ungutes Gefühl zurückgeblieben. Das Gespräch hatte eine seltsame Wendung genommen, die sie im Nachhinein nicht mehr richtig rekapitulieren konnte. Hatte der stellvertretende Polizeidirektor Malmberg mit Hanna telefoniert? Oder dieser Holgersson? War der Vater zurückgekommen, oder war er vielleicht niemals weg gewesen? Sie hatte während des Gesprächs versucht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, aber bevor es ihr gelungen war, hatte Hanna schon aufgelegt.
Barbro saß danach noch eine ganze Weile mit dem Telefon in der Hand da und überlegte, ob sie noch einmal anrufen sollte. Schließlich erhob sie sich mit einem Seufzen und ging in die Küche, um sich Teewasser aufzusetzen.
*
Jennifers private Habseligkeiten passten in einen Schuhkarton. Solange sie lebte, war es Elise absolut verboten, sich dieser Kiste auch nur zu nähern, aber jetzt war es eben anders. Jennifer war tot. Daran war nichts mehr zu ändern. Sie saß an ihrem kleinen Tisch – es wäre übertrieben, ihn einen Schreibtisch zu nennen, auch wenn er so gedacht war – und hob vorsichtig den Deckel von dem Karton. Sie spürte ein Ziehen im Bauch, als sie die Tür zum geheimnisvollen Leben ihrer großen Schwester einen Spaltbreit öffnete.
Elise wusste nicht, was sie erwartet hatte dort zu finden, aber wahrscheinlich etwas viel Schlimmeres, viel Verboteneres als diese bedeutungslosen Dinge, die sie jetzt vor sich sah. Ein paar Fläschchen Parfüm, billiger Schmuck, der schon seit Jahren nicht mehr Jennifers Stil gewesen sein konnte, ein paar Briefe von einem Mädchen aus Schonen, mit dem Jennifer vor vielen Jahren eine Brieffreundschaft hatte. Da gab es einen Stapel mit Passfotos von Jennifers Freunden aus der Mittelstufe, ein Paket französische Zigaretten ohne Filter, ein nur halb eingelöstes Rezept für Antibabypillen. Und ganz unten: ein Adressbuch.
Elise nahm es heraus und blätterte es von hinten nach vorne durch. Nur Namen, die ihr aus Jennifers Bekanntenkreis schon geläufig waren. Die meisten waren alte Freunde aus der Grundschule, aber ein paar neue Namen waren in jüngster Zeit doch dazugekommen. Elise wusste immer, mit wem Jennifer sich traf, auch wenn sie selten oder nie dabei sein durfte. Dann fand sie Jocke. »Jocke Andersson« stand dort. Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen.
Wie viele Male hatte sie das nicht schon mit ihren Freunden gemacht, wenn sie das Schuljahrbuch durchgeblättert hatten, um das Aussehen der Jungs mit Punkten zu bewerten? Eigentlich war das ja vollkommen idiotisch, aber es kribbelte im Bauch, wenn man die Adresse einer heißen Beute sah. Sie fragte sich, ob es bei den Jungen genauso lief. Ob auch sie schon beim Anblick der Adressen der Mädchen zu sabbern begannen. Und jetzt war es wieder da, dieses Kribbeln im Bauch. Jocke war spannend, groß und erwachsen – keiner dieser
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