Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:
kleinen, flaumbärtigen Jungen, mit denen sie zur Schule ging.
Sie klappte das Adressbuch zu und holte den Stapel mit Passfotos aus dem Schuhkarton. Sie brauchte nicht lange zu suchen, bis sie in Jockes blaugraue Augen schaute. Auf dem Bild trug er keinen Bart. Diese Augen waren unverwechselbar. Ein bisschen gefährlich sah er auch aus. Vielleicht sind es diese Augen, diese traurigen Augen, die eher nach innen gekehrt wirken, vielleicht, dass er erwachsen war und wie er Jennifer im Arm gehalten hat, als würde er sie besitzen. Und jetzt war er frei, dachte sie plötzlich. Jetzt war er nicht mehr Jennifers Freund, jetzt konnte er nehmen, wen er wollte, tun, was er wollte.
Es hatten doch immer alle gesagt, dass sie sich so ähnlich seien, sie und Jennifer. Da war Elise eigentlich ganz anderer Meinung, aber wenn sie die Leute nun einmal so sahen … Sie würde viel dafür geben, einmal diese Arme um sich spüren zu dürfen. Vielleicht hatte er ja auch …? Jocke war jetzt bestimmt sehr traurig. Außerdem hatte die Polizei wohl ein Auge auf ihn, er war bestimmt verdächtig. Aber das konnte Elise sich nicht vorstellen – dass Jocke Jennifer ermordet haben sollte, mit bloßen Händen erwürgt. Nein, so wie er sie damals in den Armen gehalten hatte, als sie die beiden zusammen gesehen hatte. Sie stellte sich vor, dass er deprimiert war. Er brauchte Trost, jemanden, mit dem er reden konnte.
Und wer könnte besser dafür geeignet sein als sie selbst? Sie saßen schließlich in einem Boot, Jocke und Elise. Lebten in einem Vakuum nach dem Verlust von Jennifer. Es könnte einen Versuch wert sein. Sie blätterte noch einmal bis zu seiner Adresse und lernte sie auswendig. Er wohnte gar nicht so weit weg, nur ein paar Blocks weiter. Sie legte Jennifers Sachen in den Schuhkarton zurück, schloss den Deckel und stellte alles in die Garderobe zurück. Als ob Jennifer sonst entdecken könnte, was sie getan hatte.
Elise hängte sich an eine Frau, die mit ihrem Hund Gassi gegangen war, und schlüpfte unbemerkt hinter ihr durch die Eingangstür. Sie blieb vor dem Klingelbrett stehen, um nachzuschauen, in welchem Stockwerk Jocke wohnte. Es gab zwei Anderssons im Haus, und sie beschloss, zunächst in den ersten Stock zu gehen. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, wenn sie Jocke traf, aber sie war nicht besonders schüchtern, also würde ihr schon irgendetwas einfallen. Sie fragte sich, ob Jennifer jemals hier gewesen war. Falls ja, hatte sie es jedenfalls nicht erzählt, aber warum hätte sie das auch tun sollen? Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Jocke vielleicht gar nicht zu Hause war, aber irgendwie war sie davon überzeugt, dass sie ihn antreffen würde. So wie die Dinge lagen.
Und tatsächlich war es Jocke, der die Tür öffnete. Er schaute sie fragend an, ohne ein Wort zu sagen.
»Hallo«, sagte sie und lächelte ihn an. »Bist du Jocke?«
»Ja«, antwortete er und erwiderte vorsichtig ihr Lächeln.
Er sah aus, als wäre er in eine Prügelei geraten, mit einem mittlerweile gelben Bluterguss an einem Auge.
»Ich bin Elise.«
Jocke schaute sie ein paar Sekunden lang schweigend an, ohne sich anmerken zu lassen, was er gerade dachte.
»Ihr seid euch ähnlich«, sagte er dann.
»Das sagen alle.«
Das Gespräch geriet ins Stocken.
»Darf ich einen Moment reinkommen?«, fragte Elise schließlich.
»Nein, im Augenblick passt das überhaupt nicht«, antwortete Jocke und schaute über die Schulter zurück, als ob es dort jemanden gab, der nicht wissen durfte, dass sie hier war. »Wolltest du etwas Bestimmtes, oder …?«
»Nein, nur ein bisschen reden.«
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Jocke und senkte den Blick.
Die Worte klangen irgendwie so feierlich. Es klang nicht natürlich, wenn junge Menschen so etwas sagten, aber vielleicht gab es keine andere Art, es zum Ausdruck zu bringen.
»Da kann ich nur dasselbe sagen«, antwortete Elise.
»Ja. Es ist furchtbar, was passiert ist.«
»Hast du die Polizei an der Backe?«, fragte Elise in dem Versuch, eine gemeinsame Ebene zu finden.
»Ja, klar«, sagte Jocke. »Lassen sie dich auch nicht in Ruhe?«
»Die glauben zwar nicht, dass ich es getan habe, aber sie stellen die ganze Zeit jede Menge Fragen.«
»Nervig«, kommentierte Jocke.
»Verdächtigen sie dich, oder …?«, fragte Elise.
»Das nehme ich an. Das müssen sie wohl«, seufzte Jocke.
»Ich glaube jedenfalls nicht, dass du es warst. Du siehst nicht wie ein Mörder aus«, stellte Elise
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