Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:
menschlichem Ermessen ihre Telefonnummer nicht kennen, da sie geheim und im Telefonbuch nicht zu finden war. Trotzdem war es genau das, was sie insgeheim befürchtete. Dass er sie anrief, dass sie bestraft werden sollte, weil sie Fryhk ans Messer geliefert hatte. Sie sollte zum Schweigen gebracht werden. Er wollte sie zerbrechen, um seine Macht zu demonstrieren. Ging es bei einer Vergewaltigung nicht genau darum? Macht. Darüber machte sich Petra Westman Sorgen. Und über die Tatsache, dass es ihn gab. Dass er gesund und munter war. Und frei. Der andere Mann.
Inzwischen war sie weiter gelaufen als normalerweise, und doch fühlte sie sich an diesem taufrischen Septembermorgen immer noch nicht ausgepowert. Mit leichten Schritten lief sie weiter, und der schlaftrunkene Zeitungsbote, der ihr entgegenkam, zuckte zusammen, als sie an ihm vorbeischoss. Ansonsten war die Gegend, soweit sie es sehen konnte, vollkommen verlassen. Kurz bevor sie die Kleingartenkolonie erreichte, verließ sie die asphaltierte Straße und lief die kurze Treppe zwischen den Mietshäusern hinauf, die zum Vitabergspark führte. Sie joggte den Kiesweg zwischen matschigen, ramponierten Rasenflächen entlang, vorbei am Amphitheater und dem geschlossenen Terrassencafé bis zum Wendehammer am Ende des Stora Mejtens Gränd. Es roch nach Hagebutte und nassem Asphalt.
Die Sofia-Kirche oben auf dem Hügel war noch hinter dem Nebel verborgen, aber plötzlich sah sie etwas anderes. Zu ihrer linken Seite wuchs dichtes Gestrüpp im Schatten eines roten Holzhauses, und ganz tief in diesem Gebüsch lag ein großes, blaues Etwas, das fast vollständig von Blättern und Zweigen bedeckt war. Neugierig änderte sie ihre Laufrichtung und joggte zu dem Gestrüpp hinüber, bückte sich und schob die Zweige auseinander. Es war ein Kinderwagenaufsatz aus marineblauem Stoff mit kleinen, weißen Punkten. Er sah hübsch aus, nur wenig gebraucht, und ihr erster Gedanke war, dass irgendwelche egomanen Hooligans mit Pubertätsakne den Kinderwagen geklaut und den Aufsatz ins Gebüsch geworfen hatten. Sie griff mit beiden Händen nach dem Gestell und zog es kräftig zu sich heran. Es gelang ihr, den Aufsatz halb aus den widerspenstigen Zweigen zu befreien. Bevor sie zu einem weiteren kräftigen Ruck ansetzte, warf sie einen Blick in den Aufsatz.
Dort lag ein kleiner Mensch mit geschlossenen Augen und einer hellblauen Mütze auf dem Kopf, der aus einem Fußsack herausschaute. Instinktiv richtete sie sich aus ihrer gebückten Haltung auf und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Büsche. Dornige Zweige drangen durch ihre dünne Hose und kratzten an ihren Beinen. Mit dem Körper schirmte sie das Baby von den Zweigen ab, während sie sich vorsichtig hinunterbeugte, eine Hand unter den Kopf des Kindes legte und mit der anderen Hand unter dem Fußende den Fußsack zu sich hinaufhob. Irgendetwas im Gesicht des Kindes brachte sie zu der Überzeugung, dass es sich um einen Jungen handelte. Sie legte ihre Wange an seine, konnte aber nicht feststellen, ob er noch atmete.
Dann rannte sie mit dem Kind im Arm und blutenden Schrammen an den Beinen auf das mächtige Gartentor zu, das in den Garten das Hauses führte. Sie zog und zerrte daran herum, aber es war fest verschlossen. Also rannte sie Richtung Stora Mejtens Gränd. Auf dem Rasen jenseits des Wendehammers fiel ihr ein ordentlich abgestellter Kinderwagen ohne Aufsatz auf. Mit der Hüfte stieß sie das Gartentor zu einem der Einfamilienhäuser an der Straße auf und stürmte den kurzen Weg und die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Sie klingelte, während sie gleichzeitig gegen die Haustür trat und schrie, dass sie einen Notarzt brauchte.
Nach einer halben Ewigkeit wurde die Tür von einer älteren Dame geöffnet, die sie ohne weitere Umstände eintreten ließ, auf ihr ungemachtes Bett in einem Zimmer hinter dem Flur deutete und zum Telefon eilte, um den Notarzt und die Polizei zu alarmieren.
»Das Kind ist unterkühlt und möglicherweise verletzt, vielleicht ist es auch schon tot!«, rief Petra der Frau hinterher. »Ich habe es im Park gefunden. Es kann dort schon lange gelegen haben.«
Sie zog den Reißverschluss des Fußsacks hinunter und legte den Jungen auf das Bett. Er zeigte keine Lebenszeichen und war viel zu kalt. Während sie ihm mit tiefen Zügen warme Atemluft ins Gesicht blies, massierte sie Arme und Rumpf, um ihn warm zu bekommen. Sie griff nach seinen Waden und beugte die Beine, um Leben in ihn hineinzupumpen.
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