Nur Der Tod Bringt Vergebung
haben.»
Bruder Eadulf kam näher und hielt die Lampe über das Bett. Mit sachlicher Stimme bemerkte Fidelma: «Wir haben einen schartigen Schnitt, der fast wie ein Riß aussieht und vom linken Ohr bis zur Kehle reicht; ein zweiter Schnitt verläuft vom rechten Ohr bis zur Kehle, so daß beide zusammen unter dem Kinn fast ein ‹V› bilden. Seid Ihr der gleichen Ansicht?»
Eadulf nickte langsam.
«Ja, Schwester. Es scheinen zwei verschiedene Schnitte zu sein.»
«Ich kann keine weiteren Verletzungen erkennen.»
«Um ihr diese Schnitte zufügen zu können, muß der Angreifer den Kopf der Äbtissin – vielleicht an den Haaren – nach hinten gerissen haben. Dann hat er ihr neben dem Ohr in den Hals gestochen und das gleiche auf der anderen Seite wiederholt.»
Schwester Fidelma nickte nachdenklich.
«Das Messer kann nicht besonders scharf gewesen sein. Das Fleisch sieht eher eingerissen als sauber zerschnitten aus. Es muß eine kräftige Person gewesen sein.»
Bruder Eadulf lächelte schwach.
«Dann können wir ja alle Schwestern als Verdächtige ausschließen.»
Fidelma zog die Augenbrauen hoch.
«Bis jetzt können wir niemanden ausschließen. Körperkraft ist ebensowenig den Männern vorbehalten wie Klugheit.»
«Also gut. Aber die Äbtissin muß ihren Angreifer gekannt haben.»
«Woraus folgert Ihr das?»
«Es gibt kein Anzeichen eines Kampfes. Schaut Euch in der Zelle um. Alles steht an seinem Platz. Nichts ist in Unordnung geraten. Und die Kopfbedeckung der Äbtissin hängt noch ordentlich am Kleiderhaken. Wie Ihr wißt, ist es bei den Schwestern Brauch, den Schleier nicht vor Fremden abzunehmen.»
Schwester Fidelma mußte eingestehen, daß Bruder Eadulf eine gute Beobachtungsgabe besaß.
«Ihr meint, Äbtissin Étain habe ihre Kopfbedeckung abgenommen, ehe oder während der Mörder in ihre Zelle kam? Soll das heißen, sie hat den Täter gut genug gekannt, um den Schleier abzunehmen?»
«Genau.»
«Doch was, wenn der Mörder die Zelle betrat, ehe sie wußte, wer es war? Wenn sie keine Zeit hatte, nach ihrem Schleier zu greifen, weil sie sofort überfallen wurde?»
«Eine Möglichkeit, die ich bereits ausgeschlossen habe.»
«Wieso?»
«Weil es dann irgendein Anzeichen für einen Kampf geben müßte. Hätte die Äbtissin einem Fremden gegenübergestanden, hätte sie als erstes versucht, nach ihrer Kopfbedeckung zu greifen. Und wenn er sie bedroht hätte, hätte sie sich zur Wehr gesetzt. Aber in ihrer Zelle ist alles ordentlich und aufgeräumt. Das einzige, was den friedlichen Anblick stört, ist die Äbtissin selbst, die mit aufgeschlitzter Kehle auf ihrer Schlafstatt liegt.»
Schwester Fidelma preßte die Lippen zusammen. Eadulf hatte recht. Er hatte einen scharfen Blick.
«Das klingt logisch», erwiderte sie nach einigem Nachdenken, «aber nicht völlig überzeugend. Darüber, ob die Äbtissin den Angreifer kannte, würde ich lieber noch kein abschließendes Urteil fällen. Aber es spricht vieles zu Euren Gunsten.» Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. «Ihr sagtet, Ihr seid ein Medikus?»
Eadulf schüttelte den Kopf. «Nein. Ich habe zwar am Kollegium der Medizin in Tuaim Brecain studiert und kenne mich mit vielem aus, bin aber nicht in alle Künste der Ärzte eingeweiht.»
«Verstehe. Dann werdet Ihr wohl sicherlich nichts dagegen haben, wenn wir Äbtissin Hilda bitten, Étains Leiche ins mortuarium bringen und von dem Medikus ihrer Abtei untersuchen zu lassen – nur für den Fall, daß es Verletzungen gibt, die wir übersehen haben?»
«Ich habe nichts dagegen», bestätigte Eadulf.
Fidelma nickte geistesabwesend. «Ich bezweifle, daß es im Augenblick noch irgend etwas gibt, was uns dieser Ort verraten könnte …» Sie hielt inne und beugte sich zum Boden. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie ein Büschel goldener Haare in der Hand.
«Was ist das?» fragte Eadulf.
«Die Bestätigung Eurer Vermutung», erwiderte Fidelma knapp. «Ihr sagtet doch, der Täter habe von hinten Étains Haar gefaßt und ihren Kopf zurückgehalten, während er ihr die Kehle durchschnitt. Dabei hätte er ihr sicherlich einige Haare ausgerissen. Hier haben wir die Haare, die der Angreifer fallen ließ, ehe er eilig aus der Zelle floh.»
Fidelma sah sich noch einmal in der kleinen Kammer um. Sorgfältig glitten ihre Augen über jeden Gegenstand, damit ihr ja nichts Bedeutsames entging. Dennoch beschlich sie das unerklärliche Gefühl, irgend etwas Wichtiges übersehen zu haben. Sie
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