Nur Der Tod Kann Dich Retten
Kleinstadt wie Torrance gern das Gefühl hatten, direkt mit dem Verantwortlichen zu tun zu haben. Aber verantwortlich wofür, fragte er sich und rieb sich die Oberlippe. Wann hatte er zum letzten Mal das Gefühl gehabt, etwas unter Kontrolle zu haben? »Hat sie irgendwelche Lieblingsplätze? Läden, in die sie gern geht?«
»Die Merchant Mall«, sagte Judy. »Aber die wird jetzt geschlossen sein.«
»Und das Chester’s«, fügte Howard den Namen eines Hamburger-Restaurants mit Billardzimmer hinzu, in dem die Teenager des Ortes gern herumhingen.
»Ich schau mal vorbei.« John hatte das Chester’s nie gemocht. Der Geschäftsführer war Cal Hamilton, ein ehemaliger Rausschmeißer aus South Beach, dessen Frau immer mit Blutergüssen übersät war. »Fehlen irgendwelche von ihren Sachen?«
»Ihre Kleider sind alle im Schrank«, sagte Judy. »Ihre CDs, ihr Make-up, alles an seinem gewohnten Platz. Bis auf ihr Portemonnaie und ihre Schulsachen, die sie wahrscheinlich bei sich hat. Du glaubst doch nicht, dass ihr irgendwas Schreckliches zugestoßen ist, oder?«, fuhr sie im selben Atemzug fort, weil sie die Frage nicht länger unterdrücken konnte, die über ihren Köpfen kreiste wie eine drohende Krähe, die darauf lauerte, auf sie herabzustoßen.
Was antwortet man auf eine solche Frage, überlegte John. »Ich weiß es nicht«, entschied er sich für die ehrliche Variante. »Ich hoffe nicht, und bisher gibt es auf gar keinen Fall irgendwelche Hinweise in diese Richtung.« Abgesehen davon natürlich, dass sie seit vierundzwanzig Stunden vermisst wurde, dachte er, ohne es laut zu sagen. Ihre aschfahlen Gesichter verrieten ihm, dass sie das Gleiche gedacht hatten.
Trotzdem war es eine Tatsache, dass die meisten vermissten Teenager von zu Hause ausgerissen waren. Irgendwann tauchten sie wieder auf, meistens nicht übermäßig schuldbewusst, manchmal sogar empört oder wütend über das Aufsehen, das ihr Verschwinden verursacht hatte. Aber allem Anschein nach lag dieser Fall anders. Nach dem, was die Martins ihm gerade erzählt hatten, gab es keinen Grund zu der Annahme, dass Liana weggelaufen war. Sie war ein beliebter, gut integrierter Teenager mit vielen Freunden und wenig Sorgen. Natürlich erfuhren die Eltern oft als Letzte davon, wenn es wirklich Probleme gab, deshalb wollte er ein paar Beamte losschicken, die Lianas Freundinnen unter vier Augen befragen
sollten, während er selbst auf dem Heimweg noch einmal im Chester’s vorbeischauen würde. Pauline würde bestimmt nicht begeistert sein. Aber mit ein bisschen Glück schlief sie schon, wenn er ins Bett schlüpfte. »Habt ihr ein aktuelles Foto von eurer Tochter?«, fragte er.
Judy griff in ihre rote Lederhandtasche. »Ich habe das hier. Es hat ihr nie gefallen. Sie meint, darauf würde ihre Nase zu groß aussehen, aber es ist eins meiner Lieblingsbilder, weil sie so glücklich aussieht.« Sie nahm das kleine Farbfoto aus seinem Lederrahmen und reichte es über den Schreibtisch.
Beim Anblick des hübschen Mädchens mit dem langen rotblonden Haar musste John unwillkürlich lächeln. Mutter und Tochter hatten beide Recht. Auf dem Foto sah Lianas Nase tatsächlich größer aus als in Wirklichkeit, aber sie lächelte ein breites und ehrliches Lächeln. Sie wirkte aufrichtig glücklich. Er hoffte, dass sie in diesem Moment auch irgendwo lächelte, obwohl er das nicht glaubte, wie ihm düster bewusst wurde, als er das Foto einsteckte. »Ich nehme es mit ins Chester’s und vielleicht noch in ein paar andere Läden und hör mich mal um, ob jemand sie gesehen hat. Wenn sie bis morgen Früh nicht zurück ist, machen wir Flugblätter, die wir in der ganzen Stadt aufhängen.«
»Sollten wir nicht die Medien alarmieren?«
»Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht nötig.« John hätte beinahe gelächelt. In Torrance gab es keine anderen Medien außer einem zweiwöchentlich erscheinenden Blättchen, in dem hauptsächlich Werbung und Todesanzeigen abgedruckt wurden. Die meisten Leute in der Gegend hatten entweder den Sun-Sentinel aus Fort Lauderdale oder den Miami Herald abonniert. Wenn Liana bis zum Wochenende nicht wieder aufgetaucht war, würde er die beiden Zeitungen sowie das Sheriff Department beider Städte davon in Kenntnis setzen. Wenn nötig, würde er auch das FBI einschalten.
»Glaubst du, sie könnte entführt worden sein?«, fragte Judy, ein weiteres Mal seine Gedanken lesend.
»Nun, sie ist jetzt seit vierundzwanzig Stunden verschwunden, und ihr habt
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