Nur Der Tod Kann Dich Retten
könnte Sheriff Weber anrufen«, ging Delilah dazwischen, »und ihm sagen, dass du wieder zu Hause bist.«
»Was gefällt dir denn an der Hose nicht?«
»Sie macht deine Hüften breit«, sagte Rose.
»Wirklich?«
»Ich finde, sie sieht gut aus«, verteidigte Delilah ihre Mutter.
»Du musst reden«, sagte Rose.
»Und wie geht es Sheriff Weber?«, fragte Kerri. »Hat er sich Sorgen um mich gemacht?«
»Jedenfalls hätte ich ihn anrufen sollen, wenn du bis Mitternacht nicht nach Hause gekommen wärst. Ich glaube, er hat sich Sorgen um Liana gemacht.«
»Liana?«
»Liana Martin«, erinnerte Delilah sie.
»Judy Martins Tochter«, fügte Rose hinzu. » Das ist mal eine hübsche Frau.«
»Findest du?«, fragte Kerri. »Auf mich hat sie immer ein bisschen gewöhnlich gewirkt. Was meinst du, Schätzchen?«
»Ich finde dich hübscher«, sagte Delilah.
»Danke, mein Engel. Siehst du, Mom? Delilah findet mich hübscher als Judy Martin.«
»Ist das ein Pickel an deinem Kinn?«, fragte Rose.
»Was? Wo?« Kerri stürzte zu dem Spiegel im Flur. »Wovon redest du? Ich sehe nichts.«
Delilah schüttelte den Kopf und ging in die Küche. So würden die beiden noch den ganzen Abend weitermachen, dachte sie, rief Sheriff Weber an, meldete, dass ihre Mutter wieder zuhause war, und entschuldigte sich dafür, ihn unnötig alarmiert zu haben. »Gibt es was Neues von Liana?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete er.
»Nichts«, wiederholte sie, während sie ihre Mutter und ihre Großmutter im Wohnzimmer zanken hörte. Einen Moment lauschte sie dem Gekeife, bevor sie einen Löffel aus einer Schublade nahm, sich den weißen Korbstuhl vor den Gefrierschrank zog und direkt aus dem Plastikcontainer den letzten Rest Eiscreme verputzte.
6
TOTENBUCH
D ie Erinnerung ist ein erstaunliches Phänomen. Sie prägt uns und unseren Alltag, bildet den Kontext für unsere Handlungen und die logische Grundlage unserer bisweilen zweifelhaften Entscheidungen. Wer wir heute sind, ist untrennbar verbunden mit der Erinnerung daran, wer wir gestern und vorgestern waren – Fäden in dem großen verschlungenen Gobelin unseres Lebens, auf dem besondere Ereignisse herausstechen, unsere erste Liebe oder unsere letzte Enttäuschung. Oder auch unser Hass. Wenn man an einem Faden zieht, kann man zusehen, wie sich das Ganze aufribbelt. Wer wem was getan hat, welches Essen wir mögen, die zahlreichen Fertigkeiten, die wir beherrschen oder auch nicht, die Filme, die wir gemocht haben, die Musik, zu der wir getanzt haben, die Filmstars, die wir bewundern, die Politiker, die wir verachten – wenn wir uns an all diese vermeintlich alltäglichen Details nicht erinnern können, wer sind wir dann?
Wir sind definiert durch unsere Erinnerungen. Ohne sie haben wir keine Identität. Wir haben gar nichts.
Diese erbärmlichen alten Kreaturen, die ihre Erinnerung überlebt haben und jetzt schreiend in einsamen Krankenhausfluren sitzen, nicht vor Schmerz, weil ihre Organe verfallen, sondern vor Kummer darüber, dass sie nicht mehr wissen, wer sie sind, während sie in den eigenen Schreien nach dem Klang einer vertrauten Stimme suchen. Sie leben in einer immerwährenden Gegenwart, und das ist die Hölle auf Erden.
So will ich nie werden. Wenn ich je Alzheimer oder etwas ähnlich Schreckliches kriege, hoffe ich, dass jemand mir einfach eine Pistole an den Kopf drückt und mich erschießt. Ich bin sicher, Liana Martin würde mir den Gefallen liebend gern tun. Aber sie wird die Gelegenheit leider nicht mehr bekommen.
Es heißt ja immer, dass man im Heute leben soll, und ich glaube, dass ist ein guter Rat. Erinnere dich an gestern, aber lebe heute. Jawohl, das ist mein Motto. Das hätte ich Liana Martin sagen sollen. Lebe heute, Liana. Denn was geschehen ist, ist geschehen, und man weiß nie, was als Nächstes passiert.
Nun ja. Das stimmt nicht ganz. Denn ich weiß es. Ich weiß, was als Nächstes passiert.
Es heißt auch, man soll jeden Tag so leben, als wenn es der letzte wäre. Ein weiterer guter Rat, obwohl ich glaube, dass Liana Martin ihn nicht gerne gehört hätte.
Ich frage mich, was für Erinnerungen sie in der vergangenen Nacht heraufbeschworen hat, glückliche oder traurige. Und ob sie ihr ein Trost waren.
Ich persönlich habe eine Menge eher unangenehme Erinnerungen. Zum Beispiel daran, wie ich mit fünf Jahren beinahe im Swimmingpool eines Nachbarn ertrunken wäre. Es war Robby Warrens Geburtstag, und meine Mutter war beschäftigt und konnte nicht
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