Nur Der Tod Kann Dich Retten
Appetit bewirken kann. Wir haben zusammengesessen und geredet. Über alles Mögliche. Sie hat mir von ihren Eltern erzählt, ihrem Vater, der ein hohes Tier bei der Bank of America ist, und ihrer Mutter, einer ehemaligen Schönheitskönigin, die sozusagen mit ihrer Hochzeit abgedankt hatte. Und von ihren beiden jüngeren Brüdern und ihrer kleinen Schwester Meredith, die erst sechs, aber schon eine gewaltige Nervensäge war, weil ihr alle ständig erklärten, wie hübsch sie sei, und ihre Mutter gondelte durch ganz Florida mit ihr, damit sie an irgendwelchen Miss-Wahlen teilnahm. Auch jetzt wären ihre Eltern mit ihr zu einem Schönheitswettbewerb nach Tampa gefahren und wüssten vielleicht noch nicht einmal, dass ihre älteste Tochter verschwunden war.
Und dann fing sie an zu weinen.
Wie gesagt – Mädchen weinen immer.
Ihre Tränensäcke waren so geschwollen, dass man ihre Augen kaum erkennen konnte, und vom vielen Reiben ganz rot. Was schade war, weil ihre Augen wahrscheinlich das Attraktivste an Liana Martin waren. Die Mascara-Spuren auf ihren Wangen waren ebenfalls sehr unvorteilhaft. Sie sah geschlagen und verquollen aus. Dabei hatte ich sie noch gar nicht angerührt. Ich fragte sie, warum sie keine wasserfeste Wimperntusche benutzte, aber sie sah mich bloß an, als ob ich verrückt wäre.
Welchen Tag haben wir heute, wollte sie wissen. Wie lang war sie schon hier?
Ich erklärte ihr, dass es sehr früher Mittwochmorgen und sie seit Montagnachmittag hier war. Ich erklärte ihr, dass ich lediglich mit ihr allein sein wollte und sie freilassen würde, wenn wir ein wenig »Qualitätszeit« miteinander verbracht hätten. So heißt das doch bei den Familientherapeuten – Qualitätszeit. Erzähl mir etwas von dir, drängte ich sie und setzte mich neben sie auf die Pritsche, Dinge, die du nie zuvor einem Menschen erzählt hast. Sie zögerte zunächst, aber dann begann sie, sich zu öffnen. Sie sagte, sie würde unter denselben Unsicherheiten leiden wie alle anderen auch. Sie würde sich nicht so hübsch finden wie ihre Mutter oder ihre kleine Schwester, ihre Nase wäre zu groß und ihre Hüften wären zu breit, und sie hätte immer Angst, den Ansprüchen nicht zu genügen. Welchen Ansprüchen, fragte ich, und sie zuckte mit den Achseln, als wüsste sie nicht einmal, welchen Ansprüchen sie genügen musste. Sie redete auch von ihrem Freund Peter. Alle meinten, dass sie so süß zusammen aussähen, aber sie wäre sich nicht mehr sicher, ob sie ihn wirklich mochte, weil er nicht besonders nett zu ihr war. Dann weinte sie noch ein bisschen.
Ich fragte sie, ob sie und Peter Sex hätten. Sie sagte, das ginge mich nichts an. Das gefiel mir gar nicht, und mein Ärger
muss in meinem Gesicht zu lesen gewesen sein, denn sie überlegte es sich augenblicklich anders und erzählte mir, dass sie natürlich Sex hätten. Ich fragte sie, was sie machten und ob sie ihren Mund benutzen würde. Sie sagte, dass sie es schon mehrmals mit dem Mund gemacht hätte, Peter aber noch nie. Das sei schade, erklärte ich ihr. Ein echter Mann würde seinen Mund benutzen, sagte ich.
Ich fragte sie, ob Peter der erste Junge war, mit dem sie geschlafen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Ich fragte sie, wie und mit wem sie ihre Unschuld verloren hätte. Ob es wehgetan hätte und ob sie es bereuen würde.
Dann wurde sie richtig aufgeregt. Ich erkannte es in ihren Blicken, die hin und her zuckten, als ob sie, nachdem sie nun etwas gegessen und getrunken und ein wenig Kräfte gesammelt hatte, darüber nachdachte, die Flucht zu ergreifen, obwohl es mir schleierhaft war, wohin. Aber sie antwortete mir trotzdem. Ich glaube, sie hatte Angst davor, was passieren würde, wenn wir zu reden aufhörten, also tat sie mir den Gefallen. Sie erzählte mir, dass sie ihre Unschuld mit dreizehn verloren hatte, und ja, es hatte wehgetan, aber nur kurz, und nein, sie würde es nicht bereuen. Der Junge war der Nachbarssohn, er hieß Eric Weir. Er war sechzehn und ging direkt nach seinem Highschool-Abschluss zur Armee. Er wurde prompt nach Afghanistan geschickt, wo er eine Woche vor seiner geplanten Heimkehr von einem Heckenschützen erschossen wurde. Ich fragte sie, ob sie oft an ihn dachte. Sie sagte nein, aber es täte ihr leid, dass er tot war. Ich fragte sie, mit wie vielen Typen sie schon geschlafen hatte. Sie sagte, mit vieren. Dann versuchte sie, mich etwas zu fragen, aber ich wollte nicht antworten und erklärte ihr, dass ich die Fragen stellen
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