Nur der Tod sühnt deine Schuld
elektrisierte sie. »Haley, sehen Sie mich an.«
Seine Stimme war so sanft, dass sie sich ihm unmöglich widersetzen konnte. Sie hob den Blick und schaute in Greys lächelndes Gesicht. »Was halten Sie nicht für richtig? Hat es damit zu tun, dass ich für die Polizei arbeite?«
»Nein, das ist es nicht.« Sie senkte den Blick wieder und entzog Grey die Hand.
»Was dann? Sie kommen mir nicht vor wie eine Frau, die sich nicht zu sagen traut, was sie denkt.«
Er hatte recht. Eigentlich nahm sie nie ein Blatt vor den Mund. Ihre Mutter hatte sie früher dauernd daran erinnern müssen, dass die meisten Menschen nicht einfach alle Gefühle und Gedanken laut aussprachen, so wie sie es tat.
»Das hier fühlt sich falsch an, weil es sich gut anfühlt«, sagte sie und spürte, wie sie errötete. »Meine Schwester ist erst seit ein paar Tagen tot. Was muss ich für ein Ungeheuer sein, dass ich mich auf das Mittagessen mit einem Mann freue?«
»Ein menschliches.« Grey lehnte sich zurück und sah Haley ernst an. »Trauer ist so wie die meisten Gefühle; sie allein ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Obwohl Sie leiden und der Schmerz schwer auf Ihrer Seele lastet, geht das Leben weiter, und zum Leben gehören alle anderen menschlichen Gefühle wie Wut, Frustration und Freude.«
»Sie hören sich an wie ein Therapeut«, sagte Haley trocken.
Er grinste. »Ach, wirklich?« Dann wurde er wieder ernst, und seine tiefblauen Augen verdüsterten sich. »Trauer ist auch das heimtückischste aller Gefühle. Wenn Sie gerade denken, sie endlich hinter sich gelassen zu haben, hören Sie eine Melodie, nehmen einen Geruch wahr oder erinnern sich an etwas, und schon überfällt sie Sie von neuem.«
Haley musterte Grey nachdenklich. »Sie klingen wie jemand, der weiß, wovon er spricht.«
Er zuckte mit den Schultern. »Man kann nicht achtunddreißig Jahre alt werden, ohne irgendeine Art von Trauer erlebt zu haben.«
Das Gespräch wurde unterbrochen, als die Kellnerin an den Tisch kam. »Und jetzt erzählen Sie mir von Ihrem Tattoo«, sagte Grey, nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten.
Haley sah ihn überrascht an und merkte, wie sie schon wieder errötete. »Woher wissen Sie von meinen Tattoos?« Er musste das an ihrem Knöchel gesehen haben, von dem auf ihrem Gesäß konnte er jedenfalls nichts wissen.
Erneut zog er eine Augenbraue hoch. »Gibt es mehr als eins?«
»Zwei. Eins am Knöchel und eins woanders. Das gesetzliche Mindestalter für Tattoos ist achtzehn, also habe ich mir an meinem achtzehnten Geburtstag nicht nur eins, sondern gleich zwei machen lassen. Definitiv nicht einer meiner hellsten Momente.«
»Sie waren also ein wildes Kind.«
Haley lächelte. »Wilder als meiner Mutter lieb war, aber nicht ganz so wild, wie sie dachte. Monica war die brave Tochter. Sie hatte immer gute Noten, räumte freiwillig ihr Zimmer auf und tat widerspruchslos, was man von ihr verlangte. Im Gegensatz dazu ist es mir eher schwergefallen, mich einzufügen.«
»Waren Sie beide sich als Kinder nahe, oder gab es eine starke geschwisterliche Rivalität?«
»Nahe. Monica war ein Mensch, dem man einfach nicht böse sein konnte. Sie hatte ein unglaublich sanftes Gemüt und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.« Haley spielte mit ihrer Gabel. »Deshalb ist das ja auch alles so unfassbar.«
»Den Tod zu begreifen ist unmöglich. Vor allem den plötzlichen, gewaltsamen Tod.«
Das Gespräch wurde erneut unterbrochen, als die Kellnerin mit dem Essen kam. »Jetzt haben wir aber genug von mir geredet«, sagte Haley und schob sich eine Pommes in den Mund. »Erzählen Sie mir von Dr.Grey Banes.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Womit beschäftigen Sie sich, wenn Sie nicht gerade am College lehren oder an der Psyche von Kriminellen herumdoktern?«
»Das letzte Jahr habe ich damit zugebracht, mich von einem verheirateten Mann in einen unverheirateten zu verwandeln.«
»Ich wusste nicht, dass Sie erst so kurz geschieden sind.« Er nickte. Haley war alles andere als überrascht, dass Grey verheiratet gewesen war. Ein Mann wie er konnte unmöglich achtunddreißig Jahre alt werden, ohne dass eine clevere Frau ihn sich unter den Nagel gerissen hätte. »Und was genau muss man tun, um sich von einem verheirateten Mann in einen unverheirateten zu verwandeln?«
Grey biss in seinen Burger, kaute und schluckte, bevor er antwortete. »Als Erstes musste ich kochen lernen. Das mit dem Putzen und dem Hosen-in-die-Reinigung-Bringen habe ich mir
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