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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Rhetoren, hatte nur ein Wort gesagt, denn er wusste nichts von Deutschland, nichts von den Nazis und nichts von Juden, die in Todesnot waren. Ihm reichte es, wenn er »Misuri« sagte.
    »Misuri«, so erkannte Walter an diesem Tag der Erlösung, da Gott sein Flehen um die Rettung seiner Frau und Tochter erhört hatte, war eines dieser wunderbar vieldeutigen, wundersamen Begriffe in der Suahelisprache. Solche Worte waren biegsam wie eine junge Wurzel. Sie vermochten, Beginn oder Ende einer Geschichte zu sein, Fazit oder Frage. Je nach Betonung und Mimik hieß »Misuri« gut, schön, herrlich, absolut richtig und in Ordnung. Und weil Walter, eine Stunde Bahnfahrt vor Gilgil, so eins war mit der Weite und der Stille und der Schönheit der afrikanischen Landschaft, wie er es auf der Farm nie gewesen war, hatte er »Misuri« gesagt. Er ahnte, was geschehen war. Jahrelang hatte er eine zu schwere Last getragen, mit Ketten hatte ihn das Schicksal an Deutschland geschmiedet. Nun aber war der Ballast von ihm abgefallen, und ein beherzter afrikanischer Riese hatte die Ketten durchgesägt. Dieser unglaubliche Augenblick der Befreiung währte nur einen Wimpernschlag - und dauerte doch eine Ewigkeit. In dieser Ewigkeit erschien dem Reisenden die üppige Schönheit Afrikas ein Stück Heimat, eine Heimat, die ohne Erinnerungen war, ohne Angst und ohne Ballast. Walter war so zufrieden und so voller Hoffnung wie zu keiner Zeit in seinem afrikanischen Leben. Die Wolken wurden rosa, vergoldete Blätter raschelten in den Bäumen, am Horizont leuchtete ein Silberstreif. Ein Vogel flog aus einem Busch. War es Noahs Taube mit einem Ölzweig im Schnabel? »Misuri«, sagte Private Redlich zum zweiten Mal.
    Sein Herz tanzte, und dann begann Walter wieder zu singen, laut und lustvoll und selbstvergessen. Er sang vom Jäger aus Kurpfalz, dem Wirtshaus an der Lahn und von der Lorelei auf ihrem Felsen. Er vergaß Zeit, Ort und Ziel. Der Trunkene sang vom Heideröslein und vom Doktor Eisenbart, von Maienduft und Säuferlust; er war zugleich Student und ein afrikanischer Mzee, ein kluger Greis, der gesehen und gehört hat, was er sehen und hören will.
    Der doppelte Walter erinnerte sich an Lieder, an die er seit zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mit seiner Militärmütze dirigierte er ein Orchester, und mit dem Chor der Fürstenschule zu Pless sang er zu Kaisers Geburtstag: »Üb immer Treu und Redlichkeit.« Alle Bles-suren des Lebens lösten sich in einem wohlduftenden Nebel auf. Es gab nur noch eine Stimme auf der Welt. Sie war gewaltig wie ein Vulkan.
    Und doch hörte diese schöne Welt schlagartig auf zu sein, denn abermals hämmerte eine Faust gegen die Wand von Walters Abteil. Eine schrille Frauenstimme forderte: »Aufhören, Sie verdammter Idiot.«
    Im Gegensatz zum ersten Mal ging Walter sofort auf, dass jemand in einem Eisenbahnabteil der East African Railways and Harbours Deutsch gesprochen hatte. Private Redlich, ein selbstbewusster Soldat seiner Majestät König Georg VI., setzte seine Mütze auf. Er knöpfte seine Jacke zu, grinste sein Gesicht im Spiegel an und öffnete die Tür. Mit nur zwei Schritten erreichte er das Nachbarabteil. Drinnen saß, außer sich vor Empörung, das Ehepaar Bruckmann aus dem »Hove Court«.
    »Blimey«, sagte Walter. Er kannte den Ausdruck erst seit zwei Wochen.
    Henny und Arthur Bruckmann, wohnhaft in Appartement sieben an der begehrten Nordseite, zählten in dreifacher Hinsicht zur Elite der Emigranten von Nairobi. Zum Appartement sieben gehörten nämlich eine kleine Terrasse und zwei Personalquartiere. Also hätschelten die Bruckmanns einen Rosenbaum und beschäftigten sowohl einen Koch als auch einen Mann mit Besen und Eimer. Der versorgte Haus und Wäsche und reinigte den Hundenapf.
    Das Ehepaar war überreichlich vom Schicksal beschenkt worden, und zwar mit ordentlichen Vornamen für die Englisch sprechende Welt. Ebenso ideal war der Geburtsort. Henny und Arthur Bruckmann waren gebürtige Wiener und also nach Hitlers Einmarsch in Österreich, wie ihre übrigen Landsleute, von den Kolonialbehörden in Kenia als »friendly aliens« eingestuft worden. Und wie alle österreichischen Emigranten verachteten sie ihre jüdischen Schicksalsgenossen aus Deutschland. Nicht nur, weil die zum Dessert wackelnde Puddings statt Mehlspeisen auf den Tisch brachten und ein Wiener Schnitzel in Soße ertränkten, sondern noch mehr, weil sie in Kenia den Status von »enemy aliens« hatten.
    Arthur Bruckmann, vom

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