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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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für die es einhundert-undvier Karten bedurfte. Groß war die Freude, als Harry,
    Andy und George erfuhren, dass Walter aus Deutschland stammte.
    »Gott sei Dank«, lachte Andy, »endlich mal kein verfluchter Engländer in dieser verdammten Army!«
    Sie nannten ihn »Jerry«; sein Vorname, entschieden sie, gebühre einzig ihrem Nationaldichter Sir Walter Scott, und den Nachnamen könnten sie nicht aussprechen. Walter lächelte Einverständnis. Von da an teilte er mit seinen neuen Freunden immer den Rosinenkuchen mit Zitronenguss, den Owuor für ihn bei seinen Wochenendbesuchen im »Hove Court« buk. Was das Wort Jerry im britischen Sprachraum bedeutete, wusste Walter damals noch nicht. Für die Engländer waren die Deutschen »Jerries«. Der englische Wortschatz von Jerry aus Camp Ngong reichte jedoch nicht aus, um seine unbeschwerten schottischen Kameraden ins Bild zu setzen, was es bedeutete, in einer englischen Kolonie sowohl Deutscher als auch Jude zu sein.
    Polterndes Männergelächter am anderen Ende des Waggons ließ Walter wissen, dass Andy, George und Harry einander Witze erzählten. Er nahm sich vor, sein Einzelabteil wenigstens bis Naivasha zu genießen. Dann würde immer noch genug Zeit sein, den Tornister zu schultern und den Kopf auf Heiterkeit umzustellen. Walter erschien es wichtig, seinen fröhlichen Kameraden möglichst oft zu beweisen, dass er kein einsamer Wolf war, sondern ein geselliger Kumpel, mit dem sie Pferde stehlen konnten. Die drei erinnerten ihn an seine Studentenzeit; in ihrer Gesellschaft fühlte er sich jung und nicht vom Leben gebeutelt.
    Walter hörte Harry ein Bier bestellen. George spielte auf seiner Mundharmonika eine Melodie, die ihn spontan an den alten Schlager »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren« denken ließ. Die Erinnerung war wie ein Keulenschlag. Walter grub seine Hände in die Hosentaschen und ballte sie zur Faust, bis die Knöchel schmerzten. Er versuchte mit aller Kraft, den Fangarmen seines Gedächtnisses zu entkommen. Das Lied ließ sich nicht mehr verdrängen. Erst summte Walter nur die Melodie, dann sang er die erste Strophe, und die wiederholte er so oft, bis er tatsächlich in lauer Sommernacht am Neckarstrand stand.
    Jedes Wort traktierte ihn mit den Bildern, die nie vergilbten. Erst stand Walter vor dem Heidelberger Schloss und auf der Alten Brücke, er sah Giebel und Gassen und Häuser und seine Kommilitonen. Dann saß er mit seinem Freund Martin Batschinsky im Theater. Es war Mai, und in den Gärten blühten die Apfelbäume. Walter war einundzwanzig Jahre jung und Martin auch noch leicht zu rühren. Gespielt wurde »Alt-Heidelberg«. Auf der Bühne stand Prinz Karl Heinrich und sang: »Was ist aus dir geworden, seitdem ich dich verließ, Alt-Heidelberg, du feine, du deutsches Paradies?«
    So wütend, so entsetzt und so hilflos in seinem Zorn war Walter lange nicht mehr gewesen. Er sah sich stürzen und ließ es geschehen. »Kein Wort vergessen«, klagte er, »kein verdammtes Wort. Melde gehorsamst, Herr Goebbels, ich bin immer noch ein deutscher Trottel. Sie haben es nicht geschafft, aus mir einen vaterlandslosen Gesellen zu machen.«
    Er schämte sich, denn für ihn waren Menschen, die Selbstgespräche führten, Schwächlinge und Verrückte. Er schämte sich seiner Tränen, weil er von seinem Vater gelernt hatte, nur Frauen und kleine Mädchen dürften weinen, und er verachtete sich, weil ihm bewusst war, dass er ganz andere Gründe zum Weinen hatte als die Erinnerung an ein Lied. Er schalt sich einen verkalkten, sentimentalen Narren, dass er es nicht hatte lassen können, den Weg zurückzulaufen und in Wunden zu bohren, die nie verheilt waren, doch er ließ seiner Trauer freien Lauf.
    Kurz darauf war es Andy, der mit dem Leben und der Gegenwart haderte. Er sang: »My Heart’s in the Highlands, my Heart is not here.« Er hatte eine schöne tiefe Stimme, die weit reiste. Das wehmütige Lied überwand das Klappern von Geschirr, das Rattern der Bahn und den Krieg zweier Kellner, die einander mit Fluch und Tod bedrohten. Obgleich Walter die Liebeserklärung an das schottische Hochland nie zuvor gehört hatte und er längst nicht alles verstand, was er hörte, vernahm er die Botschaft, und wieder wurden seine Augen feucht und seine Gedanken unruhig.
    Er folgte mit Augen, die schwer waren vom Schmerz der Erinnerung, den Sonnenflecken, die auf einem kleinen Spiegel unter dem Gepäcknetz tanzten. Eine schwarzgrün schillernde Fliege, so groß wie ein

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