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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Leib und Seele genommen. Einige Bedauernswerte waren fünf Wochen lang seekrank gewesen. Auch die
    Gesunden wurden, sobald sie den Fuß auf Kenias Boden setzten, von Mombasas sengender Sonne gebeutelt.
    Im Hafengelände wurden die jüdischen Neueinwanderer namentlich ausgerufen und von da ab von ihren Betreuern so behutsam wie möglich durch den ersten Tag geleitet. Die aufgeregten Menschen wurden zu den Amtsstellen eskortiert, ihnen wurde mit den Einwanderungsformalitäten und dem Gepäck geholfen. Zum Schluss wurden sie, überwältigt vom unerwarteten gastlichen Empfang, zum Zug nach Nairobi gebracht. Die Schiffe liefen fast immer in den Morgenstunden ein, der tägliche Zug nach Nairobi fuhr am späten Nachmittag ab. Zum Programm der jungen Engel gehörte also, von der Gemeinde spendiert, ein Mittagessen in einem der guten Hotels. Das opulente Mahl und die einen Neuankömmling erdrückende elegante Atmosphäre, in der es serviert wurde, die vielen Diener mit bordeauxrotem Fes und passender Schärpe über dem langen weißen Serviermantel, kurz der ganze Pomp der Kolonialzeit verunsicherten die verschreckten Menschen allerdings noch mehr, als sie es ohnehin waren. Immer wieder führten geringfügige Missverständnisse zu größeren Kalamitäten. Regina schrie gellend, als ein Kellner beim Zurechtrücken eines mit Samt bezogenen Stuhls mit der Hand versehentlich ihre Schulter und mit der Bommel seines Fes ihr Gesicht berührte. Jettel, in ihrem Bemühen, Englisch zu sprechen, und in ihrem Eifer klarzustellen, dass ihre Tochter nach den Aufregungen von Aufbruch und Ankunft hundemüde wäre, nannte sie radebrechend »a tired dog«. Ihre klare schlesische Stimme war bis in den entferntesten Winkel des Saals zu hören. Die überraschten und konsternierten Blicke der Umsitzenden waren Mister
    Silverstone noch peinlicher als der Umstand, dass sein Schützling die Kartoffel mit der Gabel zerdrückte, statt sie auf kluge britische Art mit dem Messer zu schneiden, und das Brot zerkrümelte, anstatt das dafür vorgesehene Messer zu benutzen. Regina spürte, wie aufgeregt ihre Mutter war. Vergeblich probierte sie, einen Niesreiz zu unterdrücken, doch verschluckte sie sich und spuckte die großen grünen Erbsen, die sie in der Backentasche für den armen hungernden Fips in der Reisetasche verwahrt hatte, ausgerechnet in Richtung von Mister Silverstones Roastbeef. Sie brach abermals in Tränen aus. Er unterdrückte mannhaft das Wort »disgusting« und schob seinen Teller ins Abseits.
    »Ich will nach Hause«, jammerte Regina, »und Josephine auch.«
    Wieder waren ihre Tischnachbarn ein wenig indigniert -nicht weil ein fünfeinhalbjähriges Mädchen sie zu unfreiwilligen Zeugen seines Heimwehs gemacht hatte. Seitdem Hitler Österreich annektiert hatte, wurde es vielmehr als rüde empfunden, wenn jemand in der Öffentlichkeit Deutsch sprach.
    Sprachschwierigkeiten hatten fast alle Einwanderer und ebenso gewaltige Zukunftsängste. Die gab es nicht in der Welt von Abraham Silverstone und seinen Freunden. Europa war für die smarten jungen Männer aus Kenia so weit entfernt wie der Mond. Was mit ihren Glaubensgenossen in Deutschland geschah, blieb den Glücklichen von Kenia fern. Erfuhren sie gelegentlich doch vom jüdischen Schicksal in Hitlers Hölle, von den vernichteten Existenzen, den Konzentrationslagern und der täglichen Lebensbedrohung, mochten sie nicht glauben, was sie hörten. Zwar bemühte sich der junge Silverstone ab und zu doch um politischen Durchblick, doch zum Entsetzen seines Großvaters, der 1912 aus Warschau eingewandert war, hatte sein viel versprechender Enkel bei Hitlers Einmarsch in Österreich das Land mit Australien verwechselt - der fünf gleichen Anfangsbuchstaben wegen.
    Fünf Jahre lang waren fast alle Emigranten, die in Mombasa eintrafen, aus Deutschland gekommen, neuerdings wanderten sie auch aus Österreich ein; immer mehr auch aus Polen. Polnische Einwanderer waren Abraham Silverstone mit Abstand die liebsten. Sie waren flexibler als die Leute aus Deutschland und verloren nicht so schnell die Nerven, stellten nicht immerzu Fragen, die ohnehin niemand verstand, und sie sorgten sich nicht so um ihre Kinder, als hätten sie Angst, die afrikanische Sonne würde sie auf der Stelle einschmelzen. Zwar konnten die Menschen aus Polen ebenso wenig Englisch wie die deutschen Emigranten, doch es war dem jungen Silverstone trotzdem möglich, in Kontakt zu kommen. Dank seiner polnischen Großeltern hatte er ein

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