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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Schlachtlied in die freie Welt schmettern. »Wir sind keine Sklaven mehr und trinken keine Tinte, wir verbrennen unsere Schuluniform und vergraben unsere Bücher.« Schluss mit den Strafarbeiten und der Hausordnung, mit dem fetten Hammelfleisch am Sonntag und mit Rizinusöl für alle am Montag. Grütze mit Backobst, in dem, laut einem Gerücht, das sich bereits seit zehn Jahren hielt, die Fußnägel des Kochs dümpelten, würde viereinhalb Wochen lang nicht mehr dienstags auf dem Speiseplan stehen. Vorbei war es mit halb gar gekochtem
    Lauch und verkohlten Süßkartoffeln. Vergessen waren bis zum Jahr 1942, das in weiterer Ferne lag als die Milchstraße, die verhassten Schulkrawatten, die breitkrempigen Hüte mit den blau-weiß gestreiften Bändern und die schweren Lederschuhe, die jeden Morgen so blank geputzt werden mussten wie die Stiefel der Offiziere, die, so behauptete der Geschichtslehrer, im unbekannten Europa für die Freiheit der Menschheit kämpften.
    Noch ehe an diesem 17. Dezember die Schatten kurz wurden, waren die Schülerinnen und Schüler der Nakuru School erlöst von aller Pein. Sie waren von unbekümmerten Eltern in großen Autos abgeholt und sofort mit Leckereien versorgt worden, auf die Internatsschüler drei Monate lang so klaglos zu verzichten haben, als wären sie Mönche in der Fastenzeit. Für die Schülerin Regina Redlich aus der Klasse 4b galt diese schlagartige Veränderung des Lebens allerdings vorerst nur mit Einschränkungen. Ihr Paradies am Fuße von Mount Kenya war noch verhüllt und unerreichbar, verborgen hinter einem Schleier aus Erinnerung und Heimweh.
    Doch das Wunder - das große, unglaubliche - hatte bereits begonnen. Für die scheue Schülerin, die nur eine einzige Freundin hatte und auch nur einen einzigen Schulrock statt der vorgeschriebenen zwei, war eine Ausnahme von der geheiligten Schulordnung gemacht worden. Es war, wie sie am Vortag erfahren hatte, die erste seit Gründung der Nakuru School. Die Umstände für diesen unglaublichen Sonderfall waren nur Mister Whidett, dem Schuldirektor, dem Geographielehrer Mister Sloane und natürlich Regina selbst bekannt. Ihre Eltern, die so gut wie kein Wort Englisch konnten, hatten sich in einem ausführlichen Brief dem allmächtigen Mister Whidett anvertraut, freilich ohne zu ahnen, dass er ein Herrscher war, der aus Prinzip Eltern ablehnte, die ihn um eine nicht mit der Schulordnung zu koordinierende Gefälligkeit baten.
    Wegen der eingeschränkten Sprachkenntnisse ihrer Eltern, die Regina noch peinlicher waren als der fehlende zweite Schulrock, hatte Mister Kinghorn den Brief verfasst. Kinghorn gehörte die vierzig Meilen entfernte Nachbarfarm. Er schwärmte für schlesisches Eierhäcker-le, schlesisches Himmelreich und für Jettel. Jeden Freitag ritt er zu den Redlichs, um die Wochenendausgabe des »East African Standard« und die »Sunday Post« gegen das frisch gebackene Brot seiner Angebeteten einzutauschen. Der furchtlose Briefschreiber, der in seiner Jugend Löwen und Leoparden gejagt und dabei sein linkes Bein verloren hatte, hatte vorausgesetzt, Mister Whidett wäre ein Mensch wie andere auch. Arglos hatte der einstige Großwildjäger gebeten, Regina möge in Nakuru zum Bahnhof gebracht und in den Zug nach Thompson’s Falls gesetzt werden. Dort würde er persönlich, Charles Archibald Kinghorn, »Miss Redlich« abholen und zu ihren Eltern auf die Gibson-Farm in Ol’ Joro Orok »geleiten«. Die ungewöhnliche Bezeichnung für ein Mädchen ohne Vermögen und ohne gesellschaftlichen Rang und die noch ungewöhnlichere Formulierung für eine halbstündige Autofahrt hatten auch nach zweimaligem Lesen bei Mister Whidett Missfallen erregt. Wäre die betroffene Schülerin ein wenig kooperativer gewesen, hätte sich die antiquierte Ausdrucksweise mühelos erklären lassen. Der Briefschreiber stand in seinem achtzigsten Lebensjahr. Das wurde von Regina nicht erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt ihrer Entwicklung verwehrten es ihr bereits ein-schneidende Erlebnisse und entsprechende Erkenntnisse, die Ruhe hochgestellter Persönlichkeiten und erst recht die von Pädagogen durch ungebetene Wortmeldungen zu gefährden. Im Zimmer des Direktors, wohin sie zwischen Rübeneintopf und Brotpudding befohlen worden war, verschwieg sie ferner, dass der hoch geschätzte Hausfreund ihrer Familie vor zwanzig Jahren sein Auto in einen Sumpf gefahren und sich nie mehr einen Ersatz verschafft hatte. Er würde sie auf seinem Pferd von der Bahnstation in

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