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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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grübelnde Baum wunderte sich sehr, dass ein Geographielehrer so wenig von der Welt wusste. Immerhin hatte er soeben an einer Verkehrsverbindung gezweifelt, die jedes Kind in Ol’ Joro Orok kannte. Selbst die, die zum Zählen ihre Finger brauchten.
    Sloane hatte nicht den Hauch einer Idee, wo Thompson’s Falls lag. Er stammte aus Wales, war bei Ausbruch des Krieges eher zufällig in Kenia hängen geblieben und hatte bis zum Vortag noch nicht einmal von Thompson’s Falls gehört. Er wischte seine Stirn trocken und kickte nach Bubenart einen Stein auf die Gleise. Seine Schutzbefohlene hüstelte. Die wortkarge Form der Kommunikation entsprach beider Seelenzustand.
    Regina reichte es, sich ausschließlich mit den einmaligen Vorkommnissen der letzten zwei Tage zu beschäftigen. Schon der Bahnhof von Nakuru war für sie ein Stück vom Glück. Die beiden Schienen funkelten in der Sonne, im Gras lag eine verrostete Lore, in der ein Stock mit einem weißen Wimpel lag, und vor dem gelb gestrichenen, mit Hibiskus und Rosen bewachsenen Häuschen des Bahnwärters standen drei Dornakazien. Im Schatten der dritten saß eine große graue Katze und putzte ihre Barthaare. Zwar war Regina Redlich in den zweieinhalb Jahren ihrer Schulzeit darauf gedrillt worden, sich nicht mehr als unbedingt nötig mit der eigenen Person zu beschäftigen. Dennoch bezweifelte sie an diesem Tag der Tage keinen Augenblick, dass Mungu selbst sich eingesetzt hatte, um sie zu dem glücklichsten Mädchen der Welt zu machen. Drei traurige Wochen lang hatte ein ungewisses Schicksal Regina Ruhe und Zuversicht geraubt. Einundzwanzig lange Nächte hatte sie sich in den Schlaf geweint. So sicher war sie gewesen, dass sie in den Weihnachtsferien ihre Eltern nicht würde sehen dürfen. Weil die ja kein Auto hatten, um wie alle anderen Eltern ihre Tochter von der Schule abzuholen, war Regina zu Ferienbeginn stets von Louis de Bruin nach Hause gebracht worden. Dem lebensfrohen, kinderreichen Buren gehörte in Ol’ Joro Orok eine Farm, die nur dreißig Kilometer von der Gib-son-Farm entfernt war, die Walter Redlich zu managen hatte. De Bruin war jedoch zu seiner kranken Mutter nach Südafrika gefahren, seine Tochter Anna und ihre drei älteren Brüder, die auf der Nakuru School waren, sollten die Ferien bei ihren Verwandten in Eldoret ver-bringen. Als Regina dies von Anna erfuhr, vergaß sie auf einen Schlag, dass sie ihrem Vater versprochen hatte, nie den Mut zu verlieren und immer auf Gott zu vertrauen. Sie sah sich viereinhalb Wochen lang allein im Schulgebäude hocken, bewacht von einer Lehrerin, die bestimmt umgehend versuchen würde, sie zu vergiften, um wenigstens einen Teil ihrer Ferien zu retten. Regina beschloss, in der letzten Nacht des Schulsemesters davonzulaufen und bis zu Schulbeginn im Wald um den Nakuru-See zu leben. Indes erschien ihr bereits die Flucht lebensgefährlich. Wie sollte sie unbemerkt an der Schlafzimmertür der äußerst hellhörigen Miss Chart vorbeischlüpfen können? Miss Chart mit dem rosigen Engelsgesicht und den silbernen Locken führte mit Rohrstock und der Courage, die es braucht, mit einem Stock aus Bambus auf den Hintern von zehnjährigen Mädchen einzudreschen, die Herrschaft im Schlafsaal fünf. Regina bezweifelte nicht, dass sie eine Schülerin, die auf der Flucht gestellt wurde, mit ebendiesem Stock tot schlagen würde.
    Als die Dinge in einen so entsetzenden Schwebezustand gerieten, dass Reginas Bauchschmerzen längst nicht mehr von den weißen Bohnen in erkalteter Tomatensoße herrührten, die allabendlich auf dem Tisch standen, und ihre Kopfschmerzen nicht von den Strafarbeiten, die man ihr wegen mangelnder Konzentration im Unterricht auferlegte, wurden ihre Gebete doch noch erhört. Es war wie in den Märchen. In ihnen ergoss sich zum Schluss das Glück stets auf die armen Kinder, und von den reichen und stolzen sprach niemand mehr.
    Mister Whidett mit den grauen Augen, in denen Funken stoben, wenn er wütend war, sah nicht wie eine gütige Märchenfee aus, die sich verzweifelter Kinder annimmt, und doch war er eine. »Es gibt keinen Grund«, hatte das strenge Feuerauge die Schülerin Redlich in seinem Zimmer ermahnt, »jedem in dieser Schule mitzuteilen, wie du diesmal nach Hause kommen wirst.« Reginas Kopf und Hals wurden feuerrot, als der Direktor sie ins Vertrauen zog. Sie wusste sehr gut, was es bedeutete, wenn er leise sprach und dabei zum Fenster hinausschaute, als wollte er für die Vögel im Garten das

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