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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Cognacgläser gesehen, in denen zu Segelschiffen gefaltete Leinenservietten steckten. Einen Moment voller Süße und voller Verlangen, in dem er wieder kurze Hosen und weiße Kniestrümpfe trug und seine Schwester Liesel eine gestärkte weiße Trägerschürze über ihrem Matrosenkleid, hatten ihn die Gläser, Servietten und Tischtücher an die Sonntagsessen in »Redlichs Hotel« in Sohrau erinnert.
    Er lachte laut bei dem Gedanken, dass er als Kind immer geglaubt hatte, nur reiche Leute dürften auf Reisen gehen. Nun saß Max Redlichs Sohn in einem Zug, der von Mombasa am Indischen Ozean über Gilgil bis nach Kampala in Uganda fuhr, und er, der mittellose Emigrant ohne Beruf und Zukunft, durfte so selbstverständlich den Luxus der Reichen genießen wie die Stallknechte seines Vaters ein Schmalzbrot.
    Als eine Wolke die Sonne verdeckte, erblickte der Reisende in Militäruniform sein Gesicht in der Fensterscheibe. Walter nickte sich zu und machte eine Bewegung, als wollte er salutieren, beließ es jedoch dabei, eine widerspenstige Haarsträhne zu maßregeln. Der Zug rüttelte. Im starken Wind stieg der Dampf der Lokomotive steil zu den Wolken. Als Walter das Fenster aufmachte, hörte er eine Herde von Pavianen lärmen. Die olivgrünen Affen schlichen durch das mannshohe Gras, die Kleinsten auf dem Rücken und unter dem Bauch der Mutter. Die Alten zeterten im Bass. Ihre Hinterteile leuchteten flammend rot.
    »Rundum glückliche Menschen«, diagnostizierte Walter, der sie beobachtete. Obwohl er seufzte, wurde er fröhlich und jung. Er erinnerte sich an einen Jüngling namens Taugenichts und pfiff das Lied: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.« Walter sah sich als Student mit einem Mädchen in einer
    Schankwirtschaft am Neckar sitzen und sich Männermut wünschen. Dann sang er alle vier Strophen des alten Volksliedes und wunderte sich sehr, dass er kein Wort des Textes vergessen hatte. Noch kurioser erschien es ihm, dass er immer noch wusste, dass der von Eichendorff war. »Joseph Freiherr von Eichendorff«, sagte der Literaturkenner beeindruckt. Beim zweiten Mal schmetterte er das Lied donnerlaut in die Landschaft. Dem fröhlichen Sänger fiel der Mittelstufenchor der Fürstenschule zu Pless ein. Dem hatte der Schüler Redlich bis zum Stimmbruch angehört. Jeden Dienstag um zwei war Chorprobe beim Lehrer Kotzlick. »Lernt ihr heutzutage denn gar nichts Vernünftiges mehr?«, hatte die Mutter gemäkelt. »Wenn du singen willst, um dein Brot zu verdienen, musst du Kantor werden. Möglichst in einer Großstadtsynagoge. Nur die Gojim können es sich leisten, auf einer Bühne zu stehen und zu behaupten, sie seien ein Mohr und hießen Othello.«
    Einen Herzschlag lang, der seinen Kopf zu sprengen drohte, verwechselte der gescholtene Sohn Zeit und Ort. Dann sang er nochmals die letzte Strophe: »Den lieben Gott lass ich nur walten.« Ihm gefiel die Vorstellung, dass er es künftig auch so halten wollte.
    Aus dem Nachbarabteil klopfte jemand heftig gegen die Wand. Walter grinste. Ihm wurde bewusst, dass in Deutschland eine solche Form der Kommunikation zu den vielen Wesensmerkmalen von Nachbarschaftsstreit und Bedrohung zählte. Eine Zeit lang versuchte er, sich an den Klempnermeister zu erinnern, den er wegen Nötigung vertreten hatte. Der Mandant hatte sich mit einer Axt sein Recht auf Ruhe erstritten, doch Walter fiel dessen Name nicht mehr ein, nur, dass die Ehefrau von der
    Gegenpartei bildhübsch gewesen war und rote Schuhe und einen zu engen Rock getragen hatte.
    «Sind Sie verrückt geworden?«, rief eine schrille Frauenstimme aus dem Nachbarabteil. »Wir sind doch hier nicht bei den Pfadfindern.«
    »Woher wissen Sie?«, brüllte Walter zurück. Erst viel später ging ihm auf, dass sowohl die schimpfende Frau als auch er Deutsch gesprochen hatten.
    Walters Ohren, Stimme und Gedächtnis waren gerade dabei, in die Gegenwart zurückzukehren, als er sich erinnerte, dass Eichendorff auf Schloss Lubowitz bei Rati-bor geboren wurde und in Neiße gestorben war. Beide Städte, ihre Straßen und Gassen und Plätze, die Kirchen, Geschäfte und Häuser sah er so deutlich, als hätte er Oberschlesien nie verlassen müssen. Mit geschlossenen Augen wartete der, der sich an der Kreuzung verirrt hatte, auf die Melancholie, die ungebeten auf ihn niederkommen würde, um aus den Erinnerungen an die guten Jahre quälende Niedergeschlagenheit zu machen. Jedoch bewahrten ihn die schönen Bilder und

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