Nur die Liebe bleibt
Eichendorffs Wanderlied und auch der Gedanke an die nüchterne Lebensauffassung seiner Mutter vor dem Abgrund. Es gelang ihm sogar, noch einige Minuten lang an seine Heimat zu denken wie einer, der eine Heimat hatte.
Obwohl es tropenschwül war im Abteil, nahm sich Walter vor, sich bei nächster Gelegenheit von dem freundlichen Kikuyukellner einen Tee bringen zu lassen. Zwar hatte er viel mehr Lust auf ein kühles Bier, doch bei Hitze kochend heißen Tee zu trinken, erschien ihm ein erforderlicher Schritt auf dem Weg zur Integration. Um noch eine Zeit lang mit der Möglichkeit zu spielen, es würde ihm eines Tages doch gelingen, seine Herkunft zu negieren und sich Deutschland aus dem Herzen zu reißen und seine Tochter mit einem britischen Pass zu beglücken, begann er »It’s a long Way to Tipperary« zu summen.
Er hatte das beliebte alte Marschlied aus dem Ersten Weltkrieg erst bei der Army kennengelernt. Der Schwung und die Melodie hatten ihm sofort gefallen. Nachdem er sich die Mühe gemacht hatte, den Schlager zu übersetzen, und herausgefunden hatte, dass Tipperary in Irland lag, fühlte er sich dem anonymen Soldaten im Lied wesensverbunden. Fortan litt er mit dem Mann, der im Herzen von London stand und eine unstillbare Sehnsucht nach seiner irischen Heimat hatte. Private Redlich mit dem jüdischen Galgenhumor war noch weitergegangen. Als er einmal Nachtwache hatte, hatte er das Lied neu getextet und der afrikanischen Nacht und einem herrenlosen Hund anvertraut: »It’s a long Way to Leobschütz.«
Der Sangesfreudige holte den »East African Standard« aus seinem Tornister. »Als wär’s das >Sohrauer Tageblatt<«, beglückwünschte er sich. Er sprach besonders deutlich, wenn er mit sich selbst redete. Umso mehr bedauerte er, dass er kein Publikum hatte und also niemand mitbekam, mit welcher Nonchalance einer, der vor kurzem kaum einen englischen Satz lesen konnte, nun eine englischsprachige Zeitung auseinanderfaltete.
Walter seufzte, weil das Leben auf Wiederholungen setzte und weil die Erinnerungen noch nach Jahren schmerzten - nein, nach Jahrzehnten. Das, was Private Redlich soeben widerfahren war, in einem großen Moment allein zu sein, war dem Knaben Walter schon als Sechsjährigem passiert. Seine Mutter, die ihre Kinder selten lobte, und auch sein Vater, der in Gleiwitz einen neuen Pferdeschlitten bestellen wollte, hatten eine nie mehr zu wiederholende Sternstunde im Leben ihres einzigen Sohnes verpasst. Lehrer Prohaska hatte seine Armbanduhr zu Hause vergessen und den Erstklässler Redlich kurz vor der großen Pause aus dem Klassenzimmer geschickt -Walter war nämlich das einzige Kind in der Klasse, das schon die Kirchturmuhr ablesen konnte. Hoch erhobenen Kopfes, die Wangen glühend, das Kreuz durchgedrückt, war dieses auserwählte, dieses kluge Kind über den Schulhof stolziert und überzeugt gewesen, es würde nie wieder in seinem Leben einen so schönen, einmaligen Moment geben. So war es auch gekommen. Nachdenklich begann Walter, den Leitartikel vom »East African Standard« in für ihn verständliche Sätze zu zerlegen.
»Redlich, zum Donnerwetter, du musst erst das Verbum finden. Sonst wirst du Cäsar nie anständig übersetzen können.«
»Aber wir lesen doch Cicero, Herr Oberstudienrat.« »Glaubst du, der kam ohne Verben aus?«
Gerade in sprachlicher Beziehung waren Veränderungen eingetreten, die keiner der drei Redlichs für möglich gehalten hatte, am wenigsten die zwölfjährige Regina mit ihrem feinen Oxfordakzent und der unfeinen britischen Neigung, alle Leute zu missbilligen, die des Königs Englisch nicht korrekt aussprachen. Ein halbes Jahr bei der Army hatte gereicht, um den fast vierzigjährigen Rekruten, der zu Beginn seiner Militärzeit kaum mehr als »Yes, Sir«, »No, Sir« und »Thank you« zu stammeln vermochte, in einen tüchtigen Soldaten zu verwandeln, der sich leidlich verständigen und der recht gut lesen konnte. Allerdings hatte ein aufgebrachter Major aus Mombasa
Private Redlich, der an einem Montagmorgen den Auftrag hatte, im Camp Ngong das Telefon zu bedienen, seiner Aussprache wegen für einen Inder gehalten und äußerst ungehalten gebrüllt: »Fetch me a European, you bloody fool!« Die Begebenheit hatte im Camp so schnell die Runde gemacht wie zu Zeiten des Burenkriegs ein Bulletin auf einer Buschtrommel, doch hatte sie auch zu Walters Popularität beigetragen. Private Redlich hatte nämlich eine Charaktereigenschaft, die in England mehr wert ist als
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