Nur die Liebe heilt
mich so nervös, dass ich lieber nicht in Ihrer Nähe wäre schien ihr nicht gerade eine erwachsene und intelligente Bemerkung zu sein. Also zwang sie sich zu einem Lächeln. „Schön. Ich hole nur schnell meine Tasche.“
Sie verabschiedete sich von der Krankenschwester, dann versprach sie Taryn, am nächsten Morgen ihre Schminksachen mitzubringen.
Evies Nerven flatterten, als sie nebeneinander zur Haustür gingen. Sie war sich seiner Nähe fast schmerzhaft bewusst. Wie Zahnschmerzen, sagte sie sich.
Als sie nach draußen traten, atmete Evie die kühle und süße Abendluft ein. Obwohl es noch nicht ganz dunkel war, schrie eine Eule im Wald. Sommerabende in Hope’s Crossing waren immer spektakulär – und die Nächte umso mehr, weil in ihnen ein Hauch von Verzweiflung lag. Die Natur schien einen jeden aufzufordern, noch schnell zu genießen, was man hatte, bevor sie die Welt in wenigen Wochenwieder mit scharfen Winden, Kälte und Schnee überzog. So empfand es zumindest Evie.
An ihrem kleinen Geländewagen angekommen, öffnete Brodie für sie die Tür. „Morgen habe ich ein Bewerbungsgespräch. Wollen Sie dabei sein? Tut mir leid, dass die Bewerberin heute Morgen wieder nicht die Richtige war.“
„Kommt darauf an. Wann?“
„Früh. Um halb neun. Passt das in Ihre Make-up-Pläne?“
„Das wird schon irgendwie hinhauen. Danach möchte ich mit Taryn gerne einen kleinen Ausflug in die Stadt machen, wenn Sie einverstanden sind.“
Seine blauen Augen wirkten in der Dämmerung undurchdringlich. „Halten Sie das für eine gute Idee?“
„Sie nicht?“
„Ich weiß nicht. Sie kommt mir immer noch so verletzlich vor, emotional wie auch körperlich. Die Leute sind neugierig, ich weiß nicht, ob sie schon so weit ist, derart ausgestellt zu werden.“
Sie spürte Gereiztheit in sich aufsteigen und versuchte mit aller Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. „Niemand stellt sie aus. Ich möchte nur, dass sie mal aus dem Haus kommt.“
„Und das finde ich auch gut, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich weiß aber auch, wie die Leute sein können. In der Sekunde, in der sie in die Stadt kommt, werden alle anfangen zu starren und zu tuscheln. Da ist das Mädchen, das sechs Wochen im Koma lag. Sie war früher so hübsch. “
„Sie ist noch immer hübsch“, entgegnete Evie steif.
Ihr Tonfall schien ihn zu erstaunen. „Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Meine Tochter ist wunderschön. Für mich sogar schöner denn je, weil ich weiß, wie tapfer sie ist. Aber das wird nicht jeder so sehen. Menschen können ziemliche Idioten sein. Ich möchte einfach nicht, dass irgendjemand etwas Falsches zu ihr sagt.“
Ihr Ärger verrauchte. Brodie war nur ein Vater, der das Beste für sein Kind wollte, und das rechnete sie ihm hoch an. Zugleich fühlte sie sich verpflichtet, die bittere Wahrheit auszusprechen.
„Sie können Taryn das nicht abnehmen, Brodie“, murmelte sie. „Irgendwann wird jemand etwas Dummes oder Gedankenloses zu ihr sagen. Oder beides.“
„Ich weiß. Aber können Sie es mir denn übel nehmen, dass ich sie davor so lange wie möglich beschützen möchte?“
„Natürlich nicht. Hören Sie, ich habe vor, sie höchstens eine Stunde mit ins String Fever zu nehmen. Und zwar so früh, dass der Laden die meiste Zeit noch nicht einmal geöffnet haben wird. Die einzigen Leute, die wir treffen, sind Claire Bradford und vielleicht Ihre Mutter. Keine Sorge, Brodie, ich passe auf Taryn auf, ich verspreche es.“
Er wusste, dass sie es gut meinte.
Evies blaue Augen glühten vor Entschlossenheit. Sie berührte sogar seinen Arm auf diese unnachahmliche Weise, wie sie es immer tat, wenn sie ihren Worten besondere Bedeutung verleihen wollte. Hitze strahlte von ihren Fingern ab, und einen Moment lang verlor er komplett den Faden.
„Falls wir sonst noch jemanden sehen, dann höchstens ein paar Kunden. Ich weiß nicht, ob Sie unsere Kunden kennengelernt haben, als Ihre Mutter den Laden noch hatte, aber ich kann Ihnen versichern, dass die meisten unglaublich freundlich und mitfühlend sind. Niemand wird Taryn wehtun.“
„Sie glauben also wirklich, dass sie schon so weit ist?“
„Es geht nur um einen kurzen Ausflug in einen Schmuckladen, Brodie. Ich binsicher, dass sie das hinbekommt. Ich schwöre Ihnen, dass ich sie nicht zwingen werde, bei der Independence-Day-Parade im Festwagen mitzufahren. Aber ich glaube, dass ein kurzes Treffen mit freundlichen Menschen ihr wirklich helfen könnte.“
Der Wind
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