Nur die Nacht war Zeuge (Mord Azur) (German Edition)
oben, Anne-Sophie Marrais, eine Blondine, anscheinend gleich groß wie Julien Villepin, mit modischem Kurzhaarschnitt zeigte ein breites Lachen, schöne Zähne und energisch dreinblickende Augen. Bernard Cabernet wirkte am nachdenklichsten in der Runde. Er hielt die Lippen leicht gekräuselt, als ob sie fragen wollten: Stehe ich hier richtig?
Alle drei Hauptverdächtigen sahen sympathisch aus, niemand würde in ihnen einen Mörder beziehungsweise eine Mörderin vermuten. Ken Bernstein stöhnte, würde er in einem ihm unbekannten Land nach Mr. X oder Y suchen müssen?
Von Piet Drachmann gab es kein Bild, nur einen kurzen Lebenslauf. Eine glanzvolle Karriere hatte er nicht vorzuweisen. Nach einem Anfangsjob in einer großen Agentur in Brüssel, er war von Geburt Belgier, schien er sich auf mittelmäßige Positionen in unbedeutenden Agenturen spezialisiert zu haben. Dann ging er plötzlich nach New York und wurde Verwalter einer Hilfsorganisation, später sogar deren Direktor. Keinerlei Angaben darüber, wer ihn gerufen hatte oder Begründung, warum er in eine fremde Branche gewechselt hatte. Dann kehrte er in die Werbung zurück und wurde Internationaler Koordinator für den wichtigsten Kunden der Smith, Henderson, der Di-Star. Di-Star, ein namhafter Chip-Hersteller in der IT-Branche, wollte sich in Sophia Antipolis einnisten, um ein Standbein im wissenschaftlichen Zentrum Frankreichs zu haben. Piet Drachmann sollte der Verbindungsmann zwischen Frankreich und New York werden. Die Aufgaben für Di-Star wurden größer und größer, Drachmann konnte sie nicht mehr im Alleingang meistern, eine Fusion mit der VMC wurde eingeleitet, wobei die Beratung internationaler Kunden von Drachmann, die nationaler Kunden von Villepin gehandhabt werden sollte.
Nach dem Europa-Meeting anlässlich der Werbefestspiele in Cannes hatte Drachmann angeblich auf eigenen Wunsch seine Geschäftsführerposition aufgegeben und seine Bereitschaft, seine Anteile abzugeben kundgetan, was notariell jedoch noch nicht vollzogen war. De facto hat er als geschäftsführender Gesellschafter mit 16,25 Prozent Firmenanteile das Leben verlassen. Ken Bernstein strich diese Stelle rot an. Hatte Harry Miller keine Zeit gehabt, mit Drachmann zum Notar zu gehen?
Der Lebenslauf von Julien Villepin, war positiv gesehen, sehr abwechslungsreich. Negative Zungen würden ihn einen Job-Hopper nennen, zumindest eine unruhige Seele. Nach einem Betriebswirtschaftstudium hatte er Immobilien verkauft. Ein Jahr später fand man ihn in einem großen Warenhaus in der PR-Abteilung. Kurz darauf hatte er die klassische Werbung für sich entdeckt, die ihn, wenn auch in unterschiedlichen Funktionen, bei der Stange gehalten hatte. Julien Villepin, ließ das Foto vermuten, war ein Mensch, der es verstand, Leute zu beeindrucken, die Frage war nur, wie lange.
Anne-Sophie Marrais und Bernard Cabernet hatten eine klassische Karriere in einer renommierten Agentur hinter sich. Was in aller Welt hatte sie bewogen, sich mit Julien Villepin zu verbinden. Die eigene Agentur mit der Hoffnung auf das große Geld? Geld schien die Menschen noch wilder zusammenzuwürfeln als die Liebe.
Die Maschine setzt pünktlich im Morgengrauen auf dem Flughafen von Nizza zur Landung an. Die Palmen glänzten noch nicht im Sonnenlicht, das Meer war noch grau. Ken Bernstein wollte als Erstes dem Opfer einen Besuch abstatten und später die Agentur in Sophia Antipolis aufsuchen. Mit Irina Honig hatte er ein Abendessen verabredet.
21.
Ken Bernstein war noch nie in Südfrankreich gewesen, hatte aber schon so viel davon gehört, dass er glaubte, schon einmal hier gewesen zu sein. Da war sie die große Treppe mit dem roten Teppich, die bei den Filmfestspielen die Hauptrolle spielte. Die Croisette mit ihren unzähligen Palmen führte direkt am Meer entlang. Es war eine Prachtstraße.
Dane’s Frau, die des Öfteren an die Côte fuhr, weil es chic war, sagte immer: „Es ist so herrlich dekadent.“
Ken Bernstein fragte sich, ob er die Zeit haben würde, ein bisschen Dekadenz zu erleben.
Bevor er sich zur Gerichtsmedizin aufmachte, checkte er im Hotel Martinez ein, um Anzug und Hemd zu wechseln. Nur einem guten Beobachter wäre aufgefallen, dass der jetzige Anzug ein paar Falten weniger hatte, das Hemd hingegen frische Falten vom Bügeln aufwies.
Wie überall auf der Welt befanden sich die gerichtsmedizinischen Räume im Kellergeschoss. Der diensthabende Pathologe
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