Nur die Nacht war Zeuge (Mord Azur) (German Edition)
weit beeindruckender, als das Bild von ihm vermittelt hatte. Groß, mit vollem braunen Haar und stechend blauen Augen. Seine Größe nötigte ihn, auf seine Besucher herabzuschauen. Zwei schwarze Cockerspaniel tobten um die Beine des Hausherren, sie hatten das Öffnen der Tür als Aufbruch zu einem Spaziergang missverstanden. Julien Villepin hatte alle Hände voll zu tun, die verspielten Tiere wieder ins Innere der Wohnung zu schieben. Eine Unmutsfalte bildete sich zwischen den wohlgeformten Augenbrauen und ließ ahnen, dass die Besucher nicht erwünscht waren.
Ken Bernstein erklärte seinen Auftrag und sein Anliegen.
„Eine traurige Geschichte, eine tragische“, sagte Julien Villepin. „Wer hätte einen Grund gehabt, Piet Drachmann umzubringen“, fügte er hinzu. Er sprach so deutlich und prononciert, wie ein Schauspieler, der Wert darauf legte, auch in der letzten Reihe des Theaters verstanden zu werden.
Unwillig führte er die Besucher ins Wohnzimmer und bot ihnen einen Platz an. Irina Honig versank in einem italienischen Designer Sessel und registrierte mit seitlichen Blicken den Rest der kostspieligen Einrichtung.
Ken Bernstein entdeckte auf dem Couchtisch einen Aschenbecher aus schwerem Kristallglas. Wagte aber nicht eine Zigarre aus seiner Jackentasche zu holen.
„Der Polizei habe ich bereits alles gesagt, was ich weiß. Es ist nicht viel, ich bin Anfang Mai ausgeschieden und habe danach die Agentur nicht mehr betreten“, eröffnete Julien Villepin das Gespräch. Die Nasenflügel seiner wohlgeformten Nase bebten unmerklich. Er schien seine Zähne fest aufeinander gepresst zu halten, ließ sein geschlossener Mund vermuten.
Auf der Wendeltreppe, sie zum oberen Stockwerk führte, erschien eine große, überaus schlanke Frau. Ihr tiefschwarzes, bläulich schimmerndes Haar war streng zu einem Knoten im Nacken gesteckt. Die Frisur unterstrich ihre ätherisch schönen Züge. Sie trug eine locker fallende, exotisch gemusterte Seidenbluse über schwarzen hautengen Trikothosen, die knapp unterhalb des Knies endeten. Julien Villepin erhob sich bei ihrem Erscheinen mit jugendlichem Schwung und Fürsorge im Blick. Estelle Villepin reichte den Fremden ihre schmale, blasse Hand ein wenig von oben herab. Irina Honig glaubte Angst in ihren dunklen Augen zu erkennen. Die Cockerspaniel fanden in ihr eine neues Opfer zum Toben.
Ein kleines Mädchen, mit dem tiefschwarzen Haar der Mutter und den strahlend blauen Augen des Vaters, kam die Treppe heruntergesprungen, jede Stufe einzeln nehmend, den Daumen im Mund. Der Vater eilte dem Kind besorgt entgegen und nahm es auf den Arm. Das kleine Mädchen legte seinen schwarzen Lockenkopf auf die Schulter des Vaters und starrte Ken Bernstein mit unbewegter Miene an.
„Yvonne, die ehemalige Sekretärin meines Mannes, hat uns gestern morgen angerufen und uns über den tragischen Vorfall informiert“, sagte Estelle Villepin mit leiser, etwas manierierter Stimme.
Julien Villepin setze das Kind ab, das zu den Beinen der Mutter flüchtete, ohne auch nur eine Sekunde, seinen starren Blick von Ken Bernstein abzuwenden.
„Ich glaube, wir gehen besser in mein Arbeitszimmer“, sagte Julien Villepin und fügte mit Blick auf das Kind hinzu, „Kinder bekommen mehr mit als wir glauben.“
Estelle Villepin zog stumm ihre Brauen hoch.
Das Arbeitszimmer wirkte provisorisch eingerichtet. Die Regale waren leer, nur auf dem Teppich, neben dem Schreibtisch lag ein Stapel Zeitschriften.
„Die Polizei hat alle Akten mitgenommen“, erklärte Julien Villepin, die Unmutsfalte erschien erneut zwischen den Augenbrauen.
„Den Computer auch?“ fragte Ken Bernstein.
„Den auch,“ war die knappe Antwort.
Die Wand hinter dem antiken, englischen Schreibtisch schmückte eine Reihe moderner, realistischer Zeichnungen imposanter Autotypen. Julien Villepin betrachtete besorgt eine Ecke des Schreibtisches und rieb daran, bevor er auf seinem ledergepolsterten Stuhl Platz nahm und mit viel Bedacht ein Bein über das andere legte.
„Warum sind Sie aus der Firma ausgeschieden?“ fragte Ken Bernstein.
„Die Leute waren mir zu unflexibel“, antwortete er mit blasierter Miene.
„Alle?“ fragte Ken Bernstein mit ungläubigem Lächeln.
„Piet Drachmann ist, ich meine war, ein Bürokrat, wie er im Buche steht, Anne-Sophie Marrais ist eine Frau ohne Unternehmergeist, die viel zu lange wohlbehütet unter dem Dach einer großen Agentur gearbeitet hat. Das gleiche trifft auf
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