Nur die Nacht war Zeuge (Mord Azur) (German Edition)
neugierig Harry Millers neue Errungenschaft, den zukünftigen Geschäftsführer der zukünftigen Agentur in Nizza. Monsieur Fabien war eine stattliche Erscheinung, ein großer, für einen Franzosen sehr großer Mann, mit kurzgeschnittenem, weißen Haar, aber jugendlich wirkendem Gesicht. Er würde eine bessere Figur am großen Mahagoni-Konferenztisch in der Madison Avenue abgeben, als das hagere Pillhuhn.
24.
Ted Ambers war dabei seinen Koffer auszupacken. Ein Freund hatte ihm für die Zeit seiner Ferien sein Apartment geborgt. Hier konnte er zwei Wochen bleiben, bis die Dinge einigermaßen geklärt waren und er wieder Boden unter den Füßen spürte. Das Zusammenleben mit Jessica war unerträglich geworden, dazu die beruflichen Sorgen, bei denen Jessica ihn nicht unterstützte, sondern panikartig reagierte. Die Trennung sollte vorübergehend sein, das hatten beide beschlossen. Sie mussten Abstand gewinnen. Ted Ambers sah sich in dem lieblos gestalteten Apartment um. Zum ersten Mal im Leben hatte er das Gefühl, die ganze Last dieser Welt läge auf seinen Schultern.
Anne-Sophie, er wiederholte ihren Namen wieder und wieder, was empfand er für Anne-Sophie. Nach dem Mord an Piet Drachmann wusste er nicht mehr woran er mit ihr war. Sie hatte Piet Drachmann aus tiefster Seele gehasst. War sie an dem Montag, an dem man ihr gekündigt und sie erfahren hatte, dass man auch ihm, ihrem einzigen Freund in der Agentur, gekündigt hatte, war sie da durchgedreht. Hatte sie sich k.o. Tropfen besorgt, war damit zu Piet Drachmann nach Mandelieu gefahren, hatte ihn betäubt und dann in den Pool geschubst? Er kannte Anne-Sophie noch zu wenig, um zu wissen, was in ihr vorging, wie weit sie in ihrer Wut gehen würde. Nein, das kann sie nicht getan haben. Dazu war sie nicht fähig. Aber Bernard war in seinen Augen noch unfähiger, einen Mord zu begehen und Villepin war schon vor Monaten ausgestiegen und hatte neue Pläne, bei denen Piet Drachmann keine Rolle spielte.
Anne-Sophie war eigenwillig, frech, nahm kein Blatt vor den Mund und vor allem ließ sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Sie war eine Kämpfernatur, hatte kämpferische Reden für die Sozialisten geschrieben, sie war spontan, sehr spontan. So spontan, dass sie in ihrer Wut jemand umbringen konnte? Es war keine spontane Handlung gewesen, schließlich war Piet Drachmann davor betäubt worden.
Faszinierend an ihr waren ihre wachen Augen, die sofort aufblickten, wenn ihr etwas nicht gefiel. Er hatte noch nie Augen gekannt, glaubte er, die so kritisch in die Welt blicken konnten. Von ihrer privaten Vergangenheit, den Musiker ausgenommen, hatte er an dem Wochenende wenig erfahren, sie beide waren zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt gewesen. Doch eins konnte er jetzt schon sagen, außerhalb des Konferenzraums war sie ein völlig anderer Mensch, erstaunlich anschmiegsam für ihre Größe, dazu war sie verschmust wie eine Katze. Von allem konnte sie nicht genug bekommen, war aber auch selber sehr aktiv im Geben. Anne-Sophie war eine widersprüchliche Frau. Sollte er sie anrufen, zuhause oder besser noch in der Agentur. Piet Drachmann war tot, Harry Miller hatte sie in die Agentur zurückbeordert, weil außer ihr dort niemand mehr Bescheid wusste. War das ihr Schachzug gewesen? Julien Villepin und Bernard waren ausgeschieden, Piet Drachmann ermordet, blieb also nur noch sie, die sich um die Kunden kümmern konnte.
Ted fühlte sich wie ein krankes Tier, das sich in eine fremde Höhle verkrochen hatte. Eigentlich sollte er Anne-Sophie anrufen, das Wochenende war wunderschön gewesen, doch es schien Jahre her zu sein. Harry Miller hatte sich nie wieder nach der Kündigung gemeldet. Wozu auch. Vielleicht hatte Piet Drachmann doch Selbstmord begangen und wollte ihn jemand anderem als Mord in die Schuhe schieben. Er hatte einen hinterlisten Charakter gehabt. Chuck Kaybody hatte einen Privatdetektiv geheuert, das hatte er von seiner ehemaligen Sekretärin erfahren, die ihn um die Rückgabe seines Firmen-Handys gebeten hatte, was ihr sichtlich peinlich gewesen war. „Entschuldige, entschuldige“, hatte sie immer wieder gesagt. Sie war die Letzte, die sich zu entschuldigen hatte.
25.
Ken Bernstein hatte sich mit Irina Honig eigentlich zum Abendessen im Martinez verabredet. Er hatte Hunger und wollte nicht alleine speisen, also suchte er sein Handy und rief Irina Honig an, in der Hoffnung, dass sie schon am Mittag Zeit für ihn
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