Nur dieser eine Sommer
doch davon ausgehen, dass du eventuell wieder auf Russell treffen könntest.“
„Stratton war klar, dass er mich besiegt hatte. Er hatte an meinen Augen erkannt, dass in mir etwas gestorben war.“
„Das verstehe ich nicht. Du hast Russell nie wiedergesehen?
Lovie schüttelte den Kopf.
„Also hielt keiner von euch die Verabredung ein?“
„Im Mai des folgenden Jahres erfuhr ich aus der Presse von Russells Tod. Er war mit seinem Privatflugzeug die Küste entlanggeflogen, was er zu Beginn der Brutsaison häufig tat, und dabei abgestürzt. Die Zeitungen brachten Sondermeldungen und druckten Fotos von ihm und seiner Familie. Am liebsten wäre ich ebenfalls gestorben. All das ereignete sich in dem Sommer, als deine Großmutter Linnea uns im Strandhaus besuchte. Weißt du noch? Vermutlich hat sie geglaubt, ich hätte völlig den Verstand verloren. Zu jeder Tages- und Nachtzeit streifte ich über den Strand. Später erfuhr ich, dass er unseren Termin eingehalten und die ganze Nacht am Strandhaus auf mich gewartet hatte.“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Bis zum heutigen Tag quält mich der Gedanke, wie schmerzlich er unter der Vorstellung gelitten haben muss, dass ich ihn nicht genug liebte!“
Ein Hustenanfall schüttelte ihren Körper. Cara hielt sie an den Schultern fest und streichelte ihr über den Rücken, und dabei fiel ihr auf, wie wenig sie ihre Mutter kannte, wie sehr sie sich in ihr getäuscht und wie schnell sie sich ein ungerechtes Urteil über sie gebildet hatte. Auch wenn sie Mutter und Tochter waren, wussten sie in mancher Hinsicht ziemlich wenig übereinander.
Als der Husten nachließ, fragte Cara: „Möchtest du dich einen Moment ausruhen?“
Lovie presste die Hand auf die Brust, holte kurz Luft und sagte heiser: „Ich möchte dir alles erzählen. Komm, leg deine Füße neben meine.“ Cara streckte sich neben ihrer Mutter auf dem Bett aus.
„In jenem Herbst“, fuhr Lovie fort, „suchte mich ein mir unbekannter Herr hier auf. Ich bereitete gerade unsere Abreise aus dem Strandhaus vor. Er stellte sich mir als Phillip Wentworth vor, Mitarbeiter der Morgan Grenfell Trust Limited, einer Vermögensverwaltungsgesellschaft auf den britischen Kanalinseln. Sein Besuch war mir rätselhaft, doch ich bat ihn auf eine Tasse Tee herein. Er war Engländer, Gentleman alter Schule, sehr korrekt. Doch trotz seines gepflegten britischen Akzents begriff ich nicht gleich, worauf er eigentlich hinauswollte.
Mr. Wentworth teilte mir mit, dass Russell zwei Strandgrundstücke auf der Isle auf Palms einer Umweltschutzorganisation vermacht hatte. Russell und ich hatten den Sommer des Öfteren über diese Idee gesprochen. Deshalb freute ich mich, dass er diesen Traum verwirklicht hatte. Russell durchschaute nämlich die Vorgänge auf der Insel, hatte verfolgt, wie Teile des Ostufers erschlossen, bebaut und besiedelt worden waren und man dabei keinerlei Rücksicht auf Umwelt und Meeresfauna genommen hatte. Gewiss, angesichts der zirka achthundert Bauvorhaben, die auf der anderen Seite der Insel realisiert werden sollten, waren seine zwei Grundstücksschenkungen praktisch ein Tropfen auf den heißen Stein, doch vermutlich wollte er mit gutem Beispiel vorangehen.
Ich erfuhr, dass er mir die dritte, direkt meinem Haus gegenüberliegende Parzelle überschrieben hatte und sie von einem Vermögensfonds verwalten ließ. Mr. Wentworth informierte mich weiter, dass zudem aus einem zusätzlichen Fonds die jeweiligen Grundbesitzabgaben und Steuerzahlungen für das Grundstück erfolgen sollten, sodass ich als eigentliche Eigentümerin nicht durch etwaige an mich adressierte Postsendungen, Steuerbescheide oder sonstige formelle Schreiben kompromittiert werden würde. Nach dem Finanz- und Steuerrecht der Kanalinseln darf der Vermögensfonds die Identität des Grundstückseigners nicht preisgeben. Daher der Umstand, dass dieser Mr. Wentworth mich nach Russells Tod persönlich aufsuchte.“
Cara stieß ein überraschtes Keuchen aus. „Das Grundstück gehört dir?“
„Ja, mein Schatz. Schon eine ganze Weile.“
„Wenn Palmer das hört, fällt er tot um!“
„Es darf ihm nie zu Ohren kommen“, verkündete Lovie, wobei sie ihre Tochter so ernst und eindringlich anschaute, dass es Cara die Sprache verschlug. „Niemand darf es je wissen! Darum geht es mir doch die ganze Zeit! Begreifst du es denn noch immer nicht? Der Verkehrswert des Grundstückes hat mich nie interessiert, auch der Schätzwert des Hauses nicht!
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