Nur dieser eine Sommer
auszog.“
Ihre Mutter zuckte zusammen. „Ach, das kann man doch nicht vergleichen! Du bist schließlich freiwillig gegangen! Dein Vater und ich waren dagegen, doch du hattest schon immer einen starken Willen und ein großes Selbstbewusstsein. Da kann Toy nicht mithalten. Sie ist sehr unsicher, ein Kind noch.“
Was ihre Mutter da gerade sagte, fuhr Cara wie ein Messerstich ins Herz und kränkte sie zutiefst. Sie schloss fest die Augen, weil sie den Ausdruck auf Lovies Gesicht nicht ertrug. Sie konnte nicht fassen, was sie da gerade zu hören bekam. Hatten die Eltern ihr nicht das Gleiche zugemutet, damals, als sie so alt gewesen war wie Toy jetzt? Sollte Olivia vergessen haben, dass sie, Cara, gleichfalls aus dem Elternhaus gewiesen worden war? Oder hatte ihre Mutter das alles wohlweislich verdrängt?
„Toy wusste weder aus noch ein“, fuhr Lovie fort.
Ich auch nicht, als ich abgehauen bin! Hat dir das vielleicht etwas ausgemacht?
„Also hast du sie aufgenommen?“ Cara schlug die Augen wieder auf.
„Ich hielt das für die beste Lösung. Ich suchte eine Mitbewohnerin, und Toy ein Dach über dem Kopf.“
„Es ist dein Leben“, erwiderte Cara und hob resigniert die Hände.
„Du findest es also falsch?“
„Keineswegs“, entgegnete sie, gleichmütig zwar, doch mit äußerster Mühe, ihren kochenden Zorn zu beherrschen. „Ich will mich nur nicht in deine Entscheidungen einmischen.“
Beide verfielen erneut in Schweigen, sodass eine unbehagliche Stille eintrat. Cara merkte, wie ihr Kopfschmerz zu pochen begann. Ihre Mutter schaute auf das Meer hinaus.
„Ich bin mir ganz sicher; wenn du Toy eine Chance gibst, wird sie dir gefallen. Möglicherweise kommt sie dir anfangs etwas verschlossen vor, aber sie gleicht einer Schildkröte: Unter der harten Schale steckt ein weicher Kern. Sie ist ein lieber Kerl, der Zuneigung und Geborgenheit braucht.“ Lovie legte die Finger über Caras Hand. „Willst du es nicht wenigstens mit ihr versuchen? Mir zuliebe?“
Erschöpft lehnte Cara sich gegen die Stuhllehne und blickte ihre Mutter lange an. Der Zorn war zwar verraucht, doch der Stachel saß noch immer tief. Cara fühlte sich wieder wie ein Kind, und ihr Herz schien zu rufen:
Wieso setzt du dich so für Toy ein und nicht für mich, deine eigene Tochter?
Ob sie wollte oder nicht – die Eifersucht nagte an ihr, weil ihrer Mutter so viel an diesem unbekannten Mädchen lag. Über die Jahre hatte sich zu ihrer Mutter eine Art neutrales, unaufdringliches Verhältnis entwickelt, das beiden – wegen oder trotz der Entfernung – gut bekam. Doch auf einmal kam Cara die Distanz zwischen ihnen riesig vor.
Sie zog die Hand weg. „Na schön, Mama. Ich probier’s.“
Endlich gelangt die Meeresschildkröte in vertraute Gewässer. Während über dem Atlantik der Mond aufgeht, wartet sie in der Dünung, nicht weit vom Strand. Die Schildkröte tut, was der Instinkt ihr eingibt. Zwar ist die See ihr Element, doch sie muss diese gewohnte Umgebung verlassen und unbekannten Gefahren trotzen, um am Sandstrand eine Grube für die Eiablage zu schaufeln. Findet sie eine sichere Stelle? Oder soll sie lieber noch ein Stück weiter schwimmen?
3. KAPITEL
D ie Kopfschmerzen verschlimmerten sich zu einem akuten Migräneanfall und peinigten Cara so arg, dass sie benommen wieder ins Bett taumelte. Lovie legte ihr einen feuchten Waschlappen über Augen und Stirn und gab ihr den Rat, die Muskulatur zu entspannen und möglichst wenig nachzugrübeln. Cara nickte zwar folgsam, wusste allerdings, dass man dann auch gleich von ihr verlangen konnte, das Atmen einzustellen. Ihr Job war futsch, sie verfügte über kein Einkommen mehr und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Wahrscheinlich würde sie sich nun wochenlang wie eine Wahnsinnige das Hirn zermartern. Rastlos drehte sie sich von links nach rechts und riss sich schließlich den Lappen von den Augen. Das heulende Elend überkam sie nun; verzweifelt barg sie das Gesicht in den Händen und ließ den tagelang aufgestauten Tränen freien Lauf.
Wenig später waren die Augen geschwollen und entzündet. Cara versank in jene sonderbare Apathie, die mit völliger Erschöpfung einhergeht. Sie starrte teilnahmslos auf den Oleanderbusch, der sich vor dem Fenster im Wind wiegte. Zeit spielte von jetzt an keine besondere Rolle mehr. Wolken drängten rasch vom Festland heran und überzogen den eben noch blauen Himmel mit tristem Grau. Zuvor schon hatte Cara das basstiefe Brüllen eines
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