Nur dieser eine Sommer
Nebelhorns vernommen. Ein riesiger Containerfrachter manövrierte vorsichtig durch die Hafenausfahrt und strebte dem offenen Meer zu. Ihr kam es so vor, als wäre sie ein solches Schiff auf hoher See, als steckte sie in einer Nebelbank, dick wie Erbsensuppe, als führte der Kurs ins Ungewisse.
Als blutjunge 18-Jährige hatte sie Charleston den Rücken gekehrt, um im Norden ihr Glück zu suchen. Damals kümmerte es sie nicht sonderlich, wohin die Reise ging – nur weg aus den Südstaaten war die Devise. Von den unausgesprochenen und trotzdem eindeutigen Erwartungen an eine junge Südstaatendame, zumal an eine aus besten Kreisen, hatte sie mehr als genug: zunächst ein von der Familie ausgewähltes College, danach Gattenwahl und Heirat, um sich sodann niederzulassen – irgendwo in den Südstaaten, versteht sich. So oder so ähnlich war ihr gesamtes Leben bereits säuberlich wie auf einer Karte vorgezeichnet gewesen.
Von Anfang an hatte sie allerdings ihr eigenes Kartenstudium betrieben, ihr Elternhaus nach einem tränenreichen Wutausbruch verlassen und sich nach Chicago abgesetzt. Die aufstrebende Metropole am Michigansee entsprach Caras unverblümtem, rebellischem Naturell weit mehr als das biedere Charleston mit seiner kultivierten Art. Folglich war Cara geblieben, hatte das Salzwasser des Atlantiks gegen das Süßwasser des Lake Michigan und ihren melodischen Südstaatenakzent gegen das näselnde Englisch des mittleren Westens eingetauscht. Und eines hatte sie sich fest vorgenommen: Sie wollte sich nicht mit Hilfe ihrer weiblichen Reize, sondern allein dank ihrer Intelligenz und ihres Könnens durchsetzen.
Sie hatte sich beileibe nicht geschont. Tagsüber hatte sie als Sekretärin in einer Werbeagentur gejobbt und sich nach Feierabend in Abendkursen weitergebildet, während ihre Zimmergenossinnen durch die Kneipen zogen und auf Männerfang gingen. Bis auf den heutigen Tag erfüllte es sie mit Stolz, dass sie ihren Bachelor-Abschluss nach sieben langen Jahren am Abendkolleg erworben hatte. Damit nicht genug: Im Anschluss hatte sie noch ein Studium der Betriebswirtschaftslehre angehängt und es mit dem Magistergrad abgeschlossen – alles ohne einen einzigen Cent Unterstützung von Seiten der Eltern. Das entsprach eben Caras Art. Sie war überzeugt, sie könne es ganz nach oben schaffen, das Rennen gewinnen, wenn sie nur härter arbeitete als alle anderen.
Und sie hatte es tatsächlich geschafft, auch wenn das Rennen ein Marathonlauf gewesen war. Es hatte fünfzehn Jahre hartnäckiger Plackerei erfordert, die Sprossen der Karriereleiter zu erklimmen und von der Empfangssekretärin zur Abteilungsleiterin aufzusteigen. Die Belohnung hatte in einem erfüllten, arbeitsreichen Dasein bestanden. Cara war stolz darauf, sich ab und zu den Luxus kleiner Annehmlichkeiten leisten zu können. Wohlhabend war sie zwar nicht, sie konnte sich jedoch durchaus etwas gönnen: Theaterbesuche, eine gute Flasche Wein, die eine oder andere Geldanlage, dazu die passende Garderobe samt den Accessoires, die man bei einer Führungskraft eben voraussetzte.
Und hin und wieder gab es Männer, zwar nie eine feste Bindung, doch die erwartete Cara auch nicht. Mit Richard Selby war sie nun vier Jahre liiert, länger als mit jedem anderen Kandidaten. Richard arbeitete als Jurist in derselben Agentur wie sie, ein Mann mit sicherem Auftreten, geistreich und durchaus nicht unansehnlich. Bislang war es das ernsthafteste Verhältnis, zu dem Cara es je gebracht hatte. Ob es sich um Liebe handelte, wusste sie nicht genau. Eine Liebeserklärung hatten beide bisher nicht über die Lippen gebracht. Es hätte auch nicht ihrem Stil entsprochen. Dennoch: Man verstand sich ohne Worte. Zumindest glaubte Cara das.
Eigentlich konnte sie sich nicht beklagen.
Und dann das Unfassbare: Mit einem Schlag war mit dieser Lebensweise Schluss gewesen. Man hatte Cara entlassen, und sie musste feststellen, dass sie außerhalb der Arbeitswelt keine Freunde besaß. Sang- und klanglos war sie aus Chicago abgereist, ohne sich vorher auch nur mit einer Silbe von Richard zu verabschieden. Dass ihm das offensichtlich wenig ausmachte, gab ihr ziemlich zu denken.
Den Ereignissen hilflos ausgeliefert zu sein, das erschreckte sie am allermeisten. Schließlich war sie eine Frau, die gern die Fäden in der Hand hielt und für alle Eventualitäten gerüstet sein wollte. Deshalb war die Entlassung gleichsam wie aus heiterem Himmel gekommen. Cara hatte geschuftet und geschuftet, sich
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