Nur dieser eine Sommer
Lovie fiel ein, wie auffallend leer und ausdruckslos Cara durchs Fenster geschaut hatte. „Meinst du, sie ist einsam?“
„Woher soll ich das wissen? Möglich ist es allemal. Mag ja sein, dass sie im Job als Karrierefrau gilt. Nach Feierabend ist sie allerdings einfach nur Frau.“
Verwirrt ließ Lovie einen Stapel Fotos auf den Schoß sinken. „Aber das habe ich dir doch eben erst erklärt! Sie führt ein ausgefülltes, aktives Leben! Sie ist oft unterwegs, unternimmt viel, geht für ihr Leben gern ins Theater, kennt die aktuellsten Inszenierungen!“
Fast hätte man den Eindruck haben können, dass Flos messerscharfer Blick sich glatt durch Lovies Erklärungsversuche bohrte. Sie durchschaute die Freundin offenbar sofort. „Wie leer so ein vermeintlich erfülltes Leben sein kann, müsstest du eigentlich am besten wissen.“
Die Antwort blieb Lovie im Halse stecken. Es kam ihr so vor, als wäre ihre Welt, die nur wenige Augenblicke zuvor noch so friedlich und geordnet gewirkt hatte, aus den Fugen geraten.
„Entschuldige“, murmelte Flo. „Du kennst mich ja. Ich rede erst und denke dann anschließend nach. Du wärst nicht die Erste, die mir eine überreife Tomate an den Kopf wirft. Nur zu!“
Lovie lächelte kläglich und schüttelte den Kopf. „Genau das mag ich an dir am meisten. Und ich frage mich, ob du nicht tatsächlich Recht hast, was Cara angeht.“ Aus dem Fotostapel im Schoß wählte sie eine Aufnahme aus, die ihre Tochter im Alter von dreizehn Jahren zeigte. In ein Buch vertieft, kauerte Cara wie ein Katze im Geäst einer gewaltigen alten Eiche und schien dabei nur aus einem Knäuel dünner Arme und Beine zu bestehen.
„Schau sie dir an“, sagte Flo liebevoll. „Selbst da guckt sie ganz düster!“
Lovie lachte leise und fuhr mit dem Finger über das Bild ihrer Tochter. „Der alte Baum war Caras Lieblingsplatz. Auf den kletterte sie immer, wenn sie lesen oder nachdenken oder einfach mal allein sein wollte. Wahrscheinlich stellte er eine Art Rückzugsort dar. Sie war schon ein sonderbares kleines Wesen! Man hatte dauernd den Eindruck, als laste das Leid der Welt auf ihren Schultern.“
„Pubertierende Mädchen verhalten sich oft so. Sie sind nicht mehr Kind und noch nicht Frau und können furchtbar launisch sein.“
„Mag sein. Solange Cara klein war, standen wir uns sehr nahe, doch dann entfernte sie sich immer mehr von mir. Ich konnte fast körperlich spüren, wie sie sich mir entfremdete.“
„Auch das ist für Mädchen in dem Alter völlig normal.“
„Mag sein, aber eine Mutter macht trotzdem Schlimmes dabei durch.“ Lovie seufzte. „Nach wie vor hält sie mich auf Distanz. Verglichen mit dem Verhältnis zu ihrem Vater, ist das allerdings eine Kleinigkeit. Mich brüskierte sie nur. Mit ihm hingegen stritt sie sich regelmäßig. Ich hatte oft Angst um sie. Du weißt ja, wie jähzornig ihr Vater werden konnte. Ja, es machte ihr sogar Spaß, ihn zu provozieren, glaube ich.“
„Ehrlich? Alle Achtung!“
„Flo!“
„Na und? Was ich von Stratton halte, ist dir bekannt! Friede seiner Asche – obwohl ich mir lieber nicht vorstellen möchte, wo der alte Trottel jetzt braten muss!“
Lovie war zwar sichtlich befremdet, enthielt sich aber eines Kommentars. Sie kannte das schon: Wenn sie Stratton auch nur mit einem Wort verteidigte, ging Flo postwendend an die Decke. Flo hatte den Kerl auf den Tod nicht ausstehen können, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Schnee von gestern, soweit es Lovie betraf.
„Ich wollte unbedingt einen Schnappschuss von meiner Tochter, wie sie in diesem Baum hockt“, sagte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Foto zu. „Und er ist mir gelungen. Die Eiche und mit ihr noch weitere Bäume sind Wirbelsturm Hugo zum Opfer gefallen. Jammerschade.“ Sie seufzte und legte die Bilder beiseite. „Ich zeige ihr die Aufnahme später. Cara wird mit Sicherheit auffallen, dass ihr Baum verschwunden ist.“
„Wo du schon dabei bist – magst du sie nicht auch gleich fragen, an was sie sich sonst noch aus jenen Tagen erinnert? Auf die Weise könnte sich euer Verhältnis vielleicht ein wenig entspannen.“
„Ach Flo, die Zeiten sind doch längst passé! Wozu die alten Geschichten aufwärmen? Zum ersten Mal ist Cara allein meinetwegen nach Hause gekommen, und ich möchte, dass ihr Besuch in fröhlicher und positiver Atmosphäre verläuft. Vielleicht hast du Recht mit deiner Annahme, dass das damals ohnehin alles nur typischer
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