Nur dieser eine Sommer
Dazu kamen unzählige Paar Stiefel und Schuhe aus feinstem Leder. Für die Großstadt die richtige Garderobe, erst recht für eine Frau in leitender Position. Doch für einen Faulenzertag am Strand hatte Cara nichts Passendes dabei. Faulenzen in Chicago – völlig ausgeschlossen!
Sie entschied sich für eine elegante Kombination aus mintgrüner Seide und für ein Paar auffällige, strassbesetzte Riemchensandalen. Dann stellte sie sich vor den großen an der Innenseite der Schranktür angebrachten Spiegel. Für die Michigan Avenue in Chicago wäre ihr Aufzug wahrscheinlich genau richtig gewesen. Was ihr jedoch hier entgegenblickte, war eine hoch gewachsene, schlanke, dunkelhaarige Frau, die sich im City-Stil der neunziger Jahre angezogen hatte und damit in der ungezwungenen Inselatmosphäre völlig deplatziert wirkte. Anschließend legte Cara, um ihr Outfit noch etwas zu betonen, ein wenig Lidschatten und etwas Wimperntusche auf und vollendete das Ganze mit einem Hauch Parfüm. Das noch feuchte dunkle Haar drehte sie im Nacken zu einem Knoten, den sie mit einem Kämmchen feststeckte.
Als sie schließlich ins Wohnzimmer trat, fielen Sonnenstrahlen durch die Fenster. Die Aussicht auf einen schönen Tag hob ihre Stimmung; Cara blieb einen Moment stehen und genoss einfach nur in tiefen Zügen die frische, salzige Meeresluft.
Dass ihr der Magen hörbar knurrte, wertete sie als gutes Zeichen. Sie frühstückte rasch in der winzigen, im Sonnenlicht blitzblank glänzenden Küche und stromerte danach durchs ganze Cottage, schaute durch alle Fenster, spähte in sämtliche Zimmer und blätterte die Zeitschriften durch, die auf dem Couchtisch lagen. Es dauerte nicht lange, bis sich die gewohnte Rastlosigkeit in ihr regte. So untätig herumzutrödeln, das war Cara nicht gewohnt. Sie vermisste ihren Terminkalender. Es war höchste Zeit; sie musste etwas unternehmen.
Sie hatte wirklich einen längeren Urlaub nötig, das sah sie durchaus ein. Zunächst galt es jedoch, sich der neuen beruflichen Lage anzupassen und entsprechend zu planen: Telefonate, Überlegungen bezüglich der Jobsuche, vielleicht der eine oder andere Gesprächstermin. Immerhin verfügte sie in der Branche durchaus über Kontakte, und die Tatsache, dass sie einen Ruf als Werbe-Expertin genoss, stärkte ihr Selbstvertrauen.
Nur hatte sie leider ihr Notebook und zu allem Überfluss auch ihr Handy in Chicago gelassen. Wie kann man nur so dumm sein, fragte sie sich. Nach ihrem Rauswurf hatte sie aufgebracht die Stadt verlassen und sich vorgenommen, ihrem alten Leben für eine gewisse Zeit den Rücken zu kehren. Doch anstatt sich nun befreit zu fühlen, wurmte es sie, dass sie ihre E-Mails nicht abfragen konnte, und sie hatte das Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Ohne Internetanschluss wurde sie reizbar und hektisch, sodass sie glaubte, unter Entzugserscheinungen zu leiden.
So strich sie nervös im Haus umher, und dabei streifte ihr Blick einige Fotografien, die lose gruppiert auf dem Kaminsims standen. Der Platz war vorher leer gewesen; Lovie musste die Bilder dort also erst kürzlich aufgestellt haben. Neugierig geworden, trat Cara näher, um die Aufnahmen aus der Nähe zu betrachten.
Zuallererst erregte ein Foto in einem schmalen Silberrahmen ihre Aufmerksamkeit. Auf dem Bild war sie selbst zu sehen, wie sie zusammengekauert auf einem Baum saß und ein Buch las. Sie musste damals ein ganz junges Mädchen gewesen sein. Tief in ihrem Innern regte sich etwas; sie schaute zum Fenster an der Rückseite des Hauses. Gab es sie noch, die alte Eiche, die sie viele Jahre als eine Art Kameradin betrachtet hatte? Nein, der Baum war verschwunden, ein Verlust, der Cara tief traf. „Armer alter Baum“, flüsterte sie. Erinnerungen wurden in ihr wach; automatisch stellte sie die gerahmte Fotografie zurück und nahm sich die anderen vor.
Die größte Aufnahme, auch sie in silbernem Rahmen, zeigte Palmer nebst Familie auf der Veranda des Stammhauses in Charleston. Mit sonnengerötetem Gesicht und in marineblauem Blazer mit blanken Messingknöpfen saß er neben seiner Frau und hatte den Arm um sie gelegt. Julia, schlank, makellos frisiert und in kerzengerader Haltung, trug ein helles Leinenkleid. Zu beiden Seiten des Ehepaares saßen die Kinder, Linnea und Cooper. Palmer hatte als Zielscheibe manchen Scherzes herhalten müssen, weil er ein Mädchen geheiratet hatte, das exakt wie seine Mom war. Cara hatte das allerdings nie sonderlich lustig gefunden, denn
Weitere Kostenlose Bücher